Seele aus Licht

Kapitel i: Überleben


Ein grüner und ein silberner Blitz erhellten die Ruinen eines zerstörten Tempels, als sie mit unvorstellbarer Geschwindigkeit aufeinander zurasten. Für den Bruchteil einer Sekunde verschmolzen sie am Nachthimmel zu einem wunderschönen, glühenden Gebilde, doch dann entluden sich die Attacken mit einer gewaltigen Wucht aneinander. Die Blitze tauchten die Umgebung in gleißendes Licht und drohten, die beiden Avindan, die sie erschaffen hatten, von den Beinen zu reißen.

Routiniert rammte Darian sein Schwert in die Erde und stemmte seine Füße in den Boden, als ihn die Druckwelle seiner eigenen Attacke traf. Das grelle Licht ließ seine dunklen Haare für einen Augenblick beinahe weiß erscheinen, in seinen braunen Augen tanzten Blitze. Die silberne Klinge seines Sastraschwertes zog einen tiefen Schnitt durch den Erdboden, seine Fersen gruben sich in den Untergrund und hinterließen Furchen in der aschebedeckten Erde, doch er hielt der Welle der Entladung stand.

Anders als Darian schaffte Lukas es nicht rechtzeitig, die runenverzierte Klinge seines Schwertes in der Erde zu versenken. Das scharfe Licht brannte sich in seine grünen Augen ein, bevor ihn die Wucht der Attacke von den Beinen riss. Er wurde einige Meter durch die Luft geschleudert, bis eine halb zerfallene Steinmauer seinen Flug abrupt stoppte.

Während Lukas sich nach seiner schmerzhaften Landung aufrappelte und sich nach seiner Waffe umsah, die er fallen gelassen hatte, war Darian schon bei ihm und holte mit seinem Schwert zum Hieb aus. Lukas brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit, sodass Darians Klinge nur ein paar blonde Haarsträhnen erwischte.

Beide Jungen atmeten schwer – der Kampf hatte bereits deutliche Spuren bei ihnen hinterlassen. Darian blutete aus einer Wunde über dem linken Auge, seine Unterlippe war aufgeplatzt, sein rechter Ärmel war aufgeschlitzt, genau wie die Haut, die darunter zum Vorschein kam. Doch auch sein Gegner hatte einige Verletzungen davongetragen. Über Lukas' rechte Gesichtshälfte zog sich ein langer Schnitt, der nur knapp sein Auge verfehlt hatte, seine Nase war geschwollen und blutig, dazu hatte er noch einen tiefen Schnitt an einem Oberschenkel.

Lukas erschuf eine Peitsche aus Blitzen und ließ sie auf seinen Gegner niedersausen. Darian wehrte die Attacke mit einem Blitzschlag ab, aber er war nicht schnell genug – das Ende der Peitsche erwischte ihn an der linken Schulter und grub sich durch den schwarzen Stoff seiner Kampfmontur. Darian ging in die Knie und verzog schmerzvoll das Gesicht, doch sein Angreifer ließ ihm keine Zeit, sich zu fangen, und holte zum nächsten Schlag aus.

In diesem Augenblick schnellte Darian nach vorn – Lukas merkte zu spät, dass er seinen Gegner unterschätzt hatte. Ein Lächeln schlich sich auf Darians Lippen, als er geschickt Lukas' Attacke auswich und sein Schwert in der Brust seines Gegners versenkte. Mit einem Ruck brachte er den blonden Jungen zu Fall und rammte ihm die Klinge noch tiefer in den Körper.

Lukas gab ein gequältes Stöhnen von sich, als Darian das blutige Schwert wieder herauszog, aber er unternahm nicht einmal den Versuch, sich aufzurichten oder eine neue Waffe zu erschaffen. Er war am Ende.

»Was ist mit dir, Goldlöckchen? Du hast irgendwie deinen Biss verloren. Ist wohl nicht so einfach, wenn dein Gegner kein wehrloses Mädchen ist?«, fragte Darian und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß und das Blut aus der Stirn.

Ganz langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, zog Darian einen Dolch mit schwarzer Manganklinge aus seinem Stiefel und kniete sich neben den blutüberströmten Jungen.

»Ich habe dein Herz verfehlt«, erklärte er mit dunkler Stimme, während er den Dolch in seinen Fingern drehte. »Glaub nicht, dass es ein Versehen war.« Ohne Vorwarnung rammte er die Klinge seinem Gegner in den Bauch.

Ein schmerzverzerrter Ausdruck entstellte Lukas' lädiertes Gesicht. Seine Finger gruben sich in die Erde, aber auf einen Schrei wartete Darian vergeblich.

Das Braun in Darians Augen wirkte beinahe schwarz, während er Lukas' Todeskampf beobachtete – es war der pure Hass, der ihn antrieb. Er betrachtete einen Augenblick lang den blutverschmierten Dolch in seiner Hand, dann stach er erneut zu.

Lena fuhr schreiend aus dem Schlaf.

»Tsch, es ist alles gut. Du hattest nur einen Albtraum«, flüsterte ihr eine verschlafene Stimme ins Ohr.

Es dauerte einige Sekunden, bis Lena verstand, wo sie war und wem die starken Arme gehörten, die fest um ihre Schultern lagen. Samtiges Mondlicht erhellte das dunkle Zimmer und wurde von den weißen Möbeln zurückgeworfen.

Tavis strich Lena eine Haarsträhne aus der nassen Stirn. »Soll ich das Licht einschalten?«

»Nein«, keuchte sie. Im Halbdunkel ließ es sich viel leichter weinen.

»War es wieder diese Vision?«, fragte er vorsichtig und zog sie in seine Arme.

Lena schluchzte. Sie konnte mit Tavis nicht darüber sprechen. Es gab nur zwei Menschen, mit denen sie reden wollte, weil sie sie verstehen würden, ohne sie zu bemitleiden, ohne sie zu verurteilen und ohne ihr vorzulügen, dass alles wieder gut werden würde, denn das würde es nicht – nie wieder. Einer von ihnen war tot und der andere war sein Mörder. Eine neue Welle des Schmerzes ließ ihren Körper erzittern.

Tavis drückte Lena fester an sich, aber es half nicht. Obwohl er ihr so nah war, war er gleichzeitig so weit weg. Als hätte sie eine Barriere um sich herum aufgebaut, die er nicht zu durchdringen vermochte – egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Einsamkeit umschloss Lena von allen Seiten, zog sich immer enger um ihr Herz und nahm ihm die Kraft weiterzuschlagen – ganz langsam, jeden Tag ein bisschen mehr.

»Versuch, noch ein wenig zu schlafen. Ich bin da.«

Lena schloss die Augen. Es waren beinahe neun Tage vergangen, seit Tavis ihr erzählt hatte, dass Lukas gestorben war, und seitdem wäre er am liebsten nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Aber die anderen Legionäre durften keinen Verdacht schöpfen. Tavis musste nach außen hin sein Leben weiterleben. Er beaufsichtigte das Training seiner Jäger, nahm an Versammlungen des Inneren und Äußeren Kreises teil und besuchte mit Ronen diverse Veranstaltungen mit politischen Abgesandten. Er versuchte zwar immer, so schnell wie möglich wieder zu Lena zurückzukehren, aber sein Leben spielte sich nun mal außerhalb dieser vier Wände ab.

Immer, wenn er wegging, postierte er einen seiner Dienergolem im Appartement, der Lena mit Argusaugen beobachtete – zu ihrer Sicherheit, beteuerte Tavis jedes Mal aufs Neue, aber sie kannte den wahren Grund für die Anwesenheit der Kreatur. Lena konnte nämlich die Angst in Tavis' Augen lesen, wenn er sie verließ, als fürchtete er, sie könnte an ihrem Schmerz zerbrechen. Manchmal überkam Lena dieselbe Furcht und genau wie Tavis wusste sie, der Golem würde sie nicht daran hindern können ...

Es war Lena egal, wo sie schlief, dennoch hatte ihr Tavis das riesige Doppelbett überlassen und selbst auf der unbequemen Couch Platz genommen. Lena hatte es für unnötig gehalten, schließlich war das Bett groß genug, aber Tavis hatte ihre Einwände beiseite gewischt.

Leider ließen Lenas Visionen keinen von ihnen richtig schlafen. Jede Nacht erwachte sie aus ihren furchtbaren Albträumen. In den ersten Nächten hatte Tavis sich neben sie gelegt und gewartet, bis sie wieder eingeschlafen war, um dann wieder zurück auf die Couch zu gehen. Aber irgendwann war er so müde gewesen, dass er einfach neben ihr eingeschlafen war und es nicht mehr zurückgeschafft hatte. In der darauffolgenden Nacht hatte er ihr Angebot, auf dem Bett zu schlafen, nicht mehr abgelehnt.

»Guten Morgen«, grüßte der Legionär, als Lena in ihrem Nachthemd an den Esstisch trat. Ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass sie schrecklich aussah, aber er war klug genug, das nicht laut auszusprechen. »Milch und Zucker?«, fragte er, wie er es an den Morgen, an denen sie es schaffte, das Bett zu verlassen, immer tat – heute war so ein Tag. Ein guter Tag, pflegte Tavis immer zu sagen.

Er war ein Lügner.

Ein lustloses Nicken war die einzige Reaktion, zu der Lena fähig war. Sie setzte sich an den Tisch und nestelte an der Ecke der schneeweißen Serviette, um das unbehagliche Schweigen zu überbrücken, solange Tavis den Kaffee zubereitete. Er war mit seinem Frühstück längst fertig – das lag wohl daran, dass es mittlerweile schon fast elf Uhr war. Heute hatten seine Jäger einen trainingsfreien Tag, nur deshalb konnte Tavis es sich erlauben, bei Lena zu bleiben. Die dampfende Tasse erfüllte den Raum mit einem unwiderstehlichen Duft. Den Teller mit den inzwischen kalten Waffeln schob Lena nach drei obligatorischen Bissen wie gewöhnlich von sich weg, was der Legionär mit einem missbilligenden Blick zur Kenntnis nahm.

»Was willst du heute Abend essen?«

»Nichts.«

»Das gab es doch gestern schon und vorgestern auch«, entgegnete er mit dem Versuch eines Lächelns, das ihm jedoch nicht gelang.

»Es ist eben mein Lieblingsgericht.« Lena nippte an ihrem Kaffee. Er schmeckte komisch, so wie alles andere in letzter Zeit auch.

Tavis stieß einen tiefen Seufzer aus. Er hatte auch nicht gerade viele Gründe, fröhlich zu sein. Seine Eltern waren gestorben, als er noch ein Kind war. Sein jüngerer Bruder, Darian, hasste ihn. Sein älterer Bruder, Ronen, war ein skrupelloser Mörder, der selbst vor seiner eigenen Familie nicht haltmachte, und wenn er erfahren würde, dass Tavis Lena half, wäre sein Schicksal besiegelt. Tavis' Frau, Zahra, hatte ihn für einen anderen verlassen. Sein Lieblingsschüler, Lukas, war tot und Tavis gab sich – nicht zu Unrecht, wie Lena fand – die Schuld daran. Sein bester Freund, Ivo, hatte sich nach Lenas angeblicher Hinrichtung von ihm abgewandt. Seine einzige Bezugsperson war eine traumatisierte Sechzehnjährige, zu der er eine permanente, mentale Verbindung besaß, die erst enden würde, wenn sein Herz aufhören würde zu schlagen.

Hätte Tavis einen Hund gehabt, er wäre bestimmt schon überfahren worden bei seinem Glück.

»Du musst aber etwas essen. Also, was soll ich uns bringen lassen?«, fragte er enthusiastisch, dabei hatte er auch kaum zugenommen. Seine Wangen waren nach wie vor eingefallen, der schwarze Ring mit der Feuer-Acht saß immer noch zu locker an seinem linken Ringfinger.

»Ist mir egal.«

»Wie wäre es mit boreanischem Kaninchen?« Seine Stimme klang herausfordernd. »Das gab es schon lange nicht mehr.«

»Ist mir egal«, wiederholte Lena tonlos. Diesen Satz benutzte sie seit Lukas' Tod überdurchschnittlich oft. Und das Traurige daran war, dass es sie wirklich nicht interessierte, was es zu essen gab, alles schmeckte immer gleich fade oder irgendwie seltsam falsch.

Leider erstreckte sich Lenas Gleichgültigkeit nicht nur auf das Essen, sondern auch auf ihre Kleidung und ihr Äußeres. An Tagen, an denen sie es noch nicht einmal aus dem Bett schaffte, stellte ihr Tavis Wasser und Nahrungskapseln auf den Nachttisch, in der Hoffnung sie würde sie wenigstens ein Mal nicht liegen lassen. Vergeblich. Ab und an schleppte Lena sich in die Dusche, aber nur, weil das der einzige Ort im Appartement war, an dem sie allein sein konnte – wenigstens für eine kurze Zeit. Die Badezimmertür ließ sich nicht abschließen, aber es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass niemand das Bad betrat, wenn die Tür geschlossen war. Ein unzumutbarer Zustand, über den Lena sich im Normalfall beschwert hätte, aber wie so vieles war ihr auch das vollkommen gleichgültig.

Tavis musterte sie einen Augenblick lang bekümmert, während sie ihre Hände an der Kaffeetasse wärmte und wandte sich dann wieder seinem Buch zu. So dankbar Lena ihm auch war, dafür dass er bei ihr war, so sehr hasste sie es, dass er mitbekam, wenn sie wieder einmal diese Vision gehabt hatte. Er hoffte immer noch, Lena würde diese schrecklichen Bilder bald nicht mehr sehen, aber wie sollte sie ihm erklären, dass sie die Vision selbst heraufbeschwor? Am Anfang hatte sie nicht glauben können, dass Lukas tot war, sie hatte es mit eigenen Augen sehen müssen, aber mittlerweile wollte sie einfach nur bei ihm sein, auch wenn es ihr jedes Mal das Herz zerriss. Sie war bereit, diesen Preis zu bezahlen. Tief im Inneren hoffte sie, die Grenzen der Vision zu überschreiten, darin einzutauchen und die Geschehnisse zu verändern. Eine Illusion.

Barfuß in ihrem alabasterfarbenen Kleid schritt Lena durch den schneeweißen Marmorkorridor ihrer Gedanken und blieb vor der runenbemalten, azurblauen Tür stehen. Ihre Fingerspitzen berührten sachte das glatte Holz. Sie schloss mental die Augen und atmete tief durch, während sie in der Realität bewegungslos dasaß und sich an ihrer Tasse festklammerte. Sie drückte ihre Handflächen gegen die Tür, dann lehnte sie die Stirn ebenfalls dagegen. Sie wusste, dass Tavis hinter der Tür stand, seine Anwesenheit war praktisch greifbar – er wartete, lauschte, hoffte. Augenblicklich zog Lena ihre Hände fort und kehrte in die Wirklichkeit zurück.

Tavis schaute sie durchdringend vom anderen Ende des Tisches an, doch sie wandte den Blick ab, bevor er ihr in die Augen sehen konnte. Wahrscheinlich hatte er ihre Präsenz genauso gespürt wie sie die seine. Er war es nicht gewohnt, dass sie ihm nicht sagte, was in ihr vorging, und dass sie ihn ausschloss, gehörte zu den wenigen Dingen, vor denen er sich fürchtete. Seit er Lena seine wahre Identität offenbart hatte, hatte er nicht mehr versucht, gedanklich mit ihr zu kommunizieren, auch wenn Lena wusste, dass er es gern getan hätte. Er überließ es ihr, den ersten Schritt zu machen. Eine weitere Illusion.

Der Kaffee war inzwischen kalt geworden. Lena trank ihn, obwohl er ihr nicht sonderlich schmeckte. Tavis stand nämlich kurz davor, sie zwangszuernähren, und sie wollte ihm keine weiteren Gründe liefern. Mit dem Löffel rührte sie gedankenverloren in der leeren Tasse und überlegte gerade, ob sie nicht doch noch einen Bissen von den Waffeln nehmen sollte, als ihr etwas Seltsames auffiel. Am Tassenboden hatte sich etwas abgesetzt. Zuerst dachte Lena, es wäre Zucker, aber als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass es sich um ein weißes Pulver handelte.

Plötzlich war es so, als wäre Lena aus einer langen Trance erwacht. »Was war noch in dem Kaffee außer Milch und Zucker?«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, erklärte Tavis und schaute dabei noch nicht einmal von seinem Buch auf.

Lena knallte mit voller Wucht die Tasse auf den Tisch, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; dass der Henkel dabei abbrach, war nicht geplant gewesen. »Ich will wissen, was du mir in den Kaffee getan hast!«

Einen Augenblick lang starrten sich die beiden schweigend an – Lena wutschnaubend, Tavis seelenruhig. Er war vielleicht der beste Lügner, dem Lena je begegnet war, aber sie war in der Lage, in die Vergangenheit zu sehen, und wenn sie wusste, wonach sie suchen musste, würde sie es früher oder später auch finden. Das sah Tavis wohl auch so, weil er resigniert seufzte und endlich sein Buch zur Seite legte.

»Ein Extrakt, das aus der Rinde der Narukirsche gewonnen wird. Es verfügt über eine stimmungsaufhellende Wirkung.«

Lena blickte den Legionär sprachlos an, die Bedeutung seiner Worte wollte einfach nicht in ihren Kopf.

»Ich wollte, dass es dir wieder besser geht.« In seiner Stimme war nicht einmal ein Hauch von Reue zu erkennen.

»Indem du mir Antidepressiva in den Kaffee rührst?«, fragte Lena geladen und sprang auf. Der Stuhl hinter ihr krachte auf den Boden. Sie konnte nicht glauben, dass Tavis sie so hintergangen hatte. Er hatte ihr versprochen, in Zukunft ehrlich zu ihr zu sein, das war noch keine zwei Wochen her. »Ich will ich selbst sein! Verstehst du das denn nicht?«

»Du bist aber nicht du selbst!«, entgegnete er hitzig. Mittlerweile war er auch aufgestanden und lief wild gestikulierend im Zimmer herum. »Sieh dich doch nur an! Du isst nicht, du schläfst nicht, du redest nicht mehr mit mir. Du starrst immer nur geistesabwesend ins Leere. Du hast dich aufgegeben.«

Lena hätte ihm jetzt gern geantwortet, dass er sich irrte, aber sie wollte nicht, dass er die Lüge in ihren Worten hörte. »Und du denkst, mir heimlich Antidepressiva zu verabreichen, um meine Gedanken zu vernebeln, und meinem Gehirn vorzumachen, dass alles gut wäre, würde all meine Probleme lösen?« Sie war auf einmal so unendlich wütend, dass sie schwer an sich halten musste, um Tavis nicht ins Gesicht zu springen. »Wie lange betäubst du mich schon mit diesem Zeug?«

Tavis verzog den Mund bei dem Wort betäuben. Sein Unterkiefer spannte sich an, genau wie der von Darian, wenn er wütend war. Allein der Gedanke an Darian machte Lena rasend.

»Seit sechs Tagen«, gab Tavis endlich zu. »Ich dachte, es würde vielleicht die Albträume beenden.«

»Die Albträume beenden?«, wiederholte Lena atemlos. »Das hier! Das hier ist der eigentliche Albtraum! Jedes Mal hoffe ich, aufzuwachen und festzustellen, dass Lukas noch am Leben ist. Und jetzt sag mir, wie du diesen Albtraum beenden willst!« Sie spürte das verräterische Brennen in ihren Augen und blinzelte es schnell weg, was Tavis aber nicht entging.

»Lukas hätte nicht gewollt, dass du dich aufgibst.«

Lena griff nach dem Erstbesten, was sie in die Hände bekam – es war die henkellose Tasse – und warf damit nach dem Legionär.

So geschickt, wie er sich wegduckte, war es bestimmt nicht das erste Mal, dass ihn eine wütende Frau mit Gegenständen bewarf. Die Tasse zerschellte an der schwarzen Granitwand hinter ihm.

»Wag es nie wieder, so über Lukas zu reden, als hättest du ihn gekannt! Du hast den echten Lukas nie kennengelernt!« Die Legionäre hatten einen Teil von Lukas' Erinnerungen bereits verändert, bevor er nach Isaton gebracht worden war.

Tavis' Augen blitzten golden. Es war ein gefährliches Licht, das in Lena alte Erinnerungen wachrief. »Meinst du den Lukas, der selbst nach stundenlanger Folter durch Kosta noch gewusst hat, wie du heißt, obwohl er seinen eigenen Namen schon längst vergessen hatte?«

Lena erstarrte. Tavis hatte nie auch nur ein einziges Wort darüber verloren, was die Legionäre Lukas angetan hatten, als sie ihm all seine Erinnerungen geraubt hatten. Sie hatte Kostas Fähigkeiten am eigenen Leib erfahren und alles, was sie sich gewünscht hatte, war zu vergessen.

»Meinst du den Lukas, der sich immer noch an das Blau deiner Augen erinnern konnte, als alles andere bereits verblasst war? Diesen Lukas habe ich gekannt und das hier«, er deutete auf Lena, »hätte er sich für dich nicht gewünscht. Du hast zwar überlebt, aber das, was du jetzt tust, kann man nicht leben nennen.«

»Und das, was du tust, schon?«, fauchte sie zurück.

Ehe Tavis antworten konnte, schlug Lena die Badezimmertür hinter sich zu. Zum Glück wagte er es nicht, ihr zu folgen. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und ließ sich langsam auf den Boden gleiten. Aus Gewohnheit griff sie sich an die Brust, aber an der Stelle, an der ihr Totem sein sollte, war nichts. Ihr Seelenstein lag zusammen mit anderen erloschenen Steinen irgendwo hier in der Festung von Isaton. Die Gefahr, ihn zu holen, war einfach zu groß gewesen. Ohne den Seelenstein hatte Lena das Gefühl, als würde ein Stück von ihrer Seele fehlen, als wüsste sie nicht mehr, wer sie war. Aber der Verlust des Totems war nichts im Vergleich zu dem anderen Verlust, den sie erlitten hatte.

Wieder spürte sie Tavis' Anwesenheit hinter der blauen Tür ihrer Gedanken. Sie war sich sicher, dass er auch in der Wirklichkeit auf der anderen Seite der Tür stand und darauf wartete, dass sie ihn hineinließ, aber Lena konnte es nicht.

Er hatte recht. Wie unbequem die Wahrheit auch sein mochte, es war die Realität, vor der sie die Augen nicht länger verschließen durfte. Lena musste die Tatsachen akzeptieren und irgendwie weitermachen, weiterleben. Sofort füllten sich ihre Augen mit Tränen. Lukas ist tot. Darian hat ihn getötet. Wie sollte sie ohne Lukas weitermachen? Wie konnte sie Darian jemals wieder in die Augen sehen?

Sie weinte so lange, bis sie das Gefühl hatte, ihr Körper wäre nicht mehr in der Lage, auch nur noch eine einzige Träne hervorzubringen, dann rappelte sie sich vom Fußboden auf, streifte ihre Sachen ab und wagte einen Blick in den Spiegel. Es war, als würde sie in das Antlitz einer Fremden sehen.

Sie wusste, dass es ihre blonden Haare und ihre vollen Lippen waren, aber sie fühlten sich genauso fremd an wie die Züge ihres abgemagerten Gesichts. Einzig ihre azurblauen Augen konnte sie eindeutig als ihre eigenen identifizieren. Anders als ihre seelische Verfassung ließ sich das fremdartige Spiegelbild wieder in Ordnung bringen. Sie musste nur noch etwas durchhalten, mit dem Totem würde sich ihr Spiegelbild normalisieren, das war schon früher so gewesen. Nur durfte Tavis auf keinen Fall hiervon erfahren, sonst würde er ihr noch ganz andere Dinge in den Kaffee kippen.

Lena versuchte, das seltsame Gefühl so gut es ging auszublenden, um ihre Verletzungen zu begutachten. Ihr linkes Auge sah schon wesentlich besser aus, die Schwellung war vollständig zurückgegangen. Genau wie die restlichen Hämatome, mit denen ihr Körper übersät war, hatte auch im Gesicht die Farbe der Prellungen von einem leuchtenden Lila zu einem zarten grünlichen Gelb gewechselt. Auf der rechten Seite, wo ihr Lukas zwei Rippen gebrochen hatte, würde es auch nicht mehr lange dauern, bis man nichts mehr sehen könnte. Spüren konnte Lena die Verletzung aber noch deutlich, und zwar bei jedem Atemzug.

Die Schnitte, die ihr Lukas mit seinen Attacken zugefügt hatte, waren nicht so tief gewesen und die meisten bereits so gut wie verheilt, nur nicht der Schnitt an ihrem linken Unterarm, den sie sich bei ihrem Sturz zugezogen hatte, als sie die gläserne Sphäre zerbrochen hatte. An dem Blutverlust aus dieser Verletzung wäre Lena fast gestorben. Wenn sie an diesen schrecklichen Tag zurückdachte, lag immer noch der metallische Geschmack von Blut in ihrem Mund.

Lena fuhr mit den Fingern über den diagonalen, roten Streifen an der Innenseite ihres rechten Handgelenks. Er befand sich an der Stelle, an der früher ihr silbernes Armband gewesen war. Lukas hatte es ihr geschenkt, bevor ihr Leben aus den Fugen geraten war, bevor die Legionäre ihn geholt und seine Erinnerungen verändert hatten. Mit einem Hieb seiner Blitzpeitsche hatte er ihr bei ihrer letzten Begegnung, als er sich an überhaupt nichts mehr erinnern konnte, das Schmuckstück vom Handgelenk geschnitten.

Nur einen Anhänger – den silbernen Schmetterling – hatte Lena retten können, indem sie ihn in ihren Stiefel gesteckt hatte, bevor Pax sie in das mentale Gefängnis gesperrt hatte. Als sie in Tavis' Appartement wieder zu sich gekommen war, hatte sie ihre Sachen nach dem Anhänger durchsucht, hatte ihn aber nicht finden können. Tavis hatte ihr versichert, dass da kein Schmetterling in ihrem Stiefel gewesen wäre, als er sie gefunden hatte. Zuerst war Lena davon ausgegangen, dass er wieder einmal gelogen hatte, aber nach genauer Betrachtung ihres Stiefels hatte sie den Riss im Leder entdeckt, den sie sich geholt haben musste, als sich Lukas' Blitzpeitsche um ihren Fuß gewickelt und sie zu Fall gebracht hatte. Sie hatte den Anhänger verloren, genauso wie sie Lukas verloren hatte – nun hatte sie nichts mehr, das sie an ihren Lukas erinnerte.

Da sie es immer noch nicht schaffte, gleichzeitig das Wasser, die Abschirmung und das Licht zu kontrollieren, ließ sie ihren Schmetterlingsspirit fliegen, der das Zimmer mit einem azurblauen Leuchten erfüllte. Als Lena sich unter das rieselnde Wasser stellte und die Abschirmung aktivierte, erlosch im selben Augenblick die Lichtkugel an der Decke und hätte das Badezimmer in Dunkelheit gehüllt, wäre Lenas Spirit nicht gewesen. Aufgrund ihrer Fähigkeit, das Wasser zu beherrschen, hatte Lena früher jeden einzelnen Wassertropfen wahrgenommen, der ihre Haut getroffen hatte, aber jetzt drang dieses vertraute Gefühl nicht mehr zu ihr durch, als stünde sie hinter einer dicken Glasscheibe.

 

Mit einer leichten Handbewegung verwandelte Lena die Wassertropfen in winzige Eiskügelchen, die wie in Zeitlupe ihr Gesicht trafen, auf ihre Haut prasselten und anschließend auf den Boden hüpften. Nur einen Augenblick später rannte wieder warmes Wasser an ihrem Körper hinunter. Tavis würde sich später über die starke Energiespur wundern, die Lena gerade hinterlassen hatte. Er hatte das Appartement mit einer Spiegelwand abgeschirmt, somit konnten andere Jäger Lenas Energiesignatur nicht wahrnehmen, dennoch sah er es nicht gern, wenn sie ihre Kräfte einsetzte oder ihren Spirit zum Duschen nutzte – oder missbrauchte, wie er es nannte. Wenn er das Appartement verließ, erstrahlte sein Körper für einen Augenblick in goldenem Licht – eine Vorsichtsmaßnahme. Auf diese Weise überlagerte er Lenas Energiespur, die an ihm haftete – hervorgerufen durch ihre nächtlichen Visionen.

Als Lena mit einem Handtuch bekleidet aus dem Bad kam, saß Tavis auf der Couch, neben ihm lag das Buch, in dem er schon heute Morgen gelesen hatte, und sah sie mit einem ernsten Blick an. Diesen Gesichtsausdruck kannte sie bereits – er wollte mit ihr reden oder, was viel wahrscheinlicher war, streiten. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er nicht versucht hatte, ins Bad reinzukommen, um sofort mit ihr zu sprechen, sie hatte Stunden auf dem Boden gesessen.

Bevor Lena auch nur ein Wort mit ihm wechseln würde, wollte sie sich etwas Anständiges anziehen. Es war seltsam, mit einem Mann, der weder ihr Bruder noch ihr Freund war, auf so engem Raum zu leben und sogar das Bett mit ihm zu teilen. Obwohl ihr Tavis mit seinen Bilderbuchmanieren nie auch nur einen Grund gegeben hatte, an seinen ehrenhaften Motiven zu zweifeln, fühlte sie sich dennoch unbehaglich, so spärlich bekleidet vor ihm zu stehen.

In dem Moment, als sie das dachte, wandte Tavis den Blick von ihr ab. »Ich warte.«

Lena nahm sich eines von Zahras Kleidern aus dem Schrank. Es saß etwas locker um Brust und Hüfte – Zahra war nicht nur größer als Lena, sie war auch kurviger.

»Hast du gerade meine Gedanken gelesen?«, fragte Lena verunsichert und ließ sich ihm gegenüber in den weichen Sessel fallen. Die Verbindung zwischen ihnen erlaubte ihm, eigentlich nur die Dinge zu hören, die Lena ihm auch wirklich sagen wollte. Vielleicht war das ein neuer Aspekt des Bannes, mit dem Tavis sie aneinandergebunden hatte? Keine besonders angenehme Vorstellung.

Doch Tavis schüttelte den Kopf. »Manchmal kann ich in deinen Augen erkennen, was du denkst.«

Das konnte Darian auch. Es schmerzte unerträglich, an ihn zu denken, aber bei weitem nicht so sehr wie die Erinnerung an Lukas, trotzdem kehrten Lenas Gedanken immer wieder zu den beiden Jungen zurück. Als Darian erfahren hatte, dass Lena tot wäre, war seine Trauer schnell in Wut umgeschlagen. Das konnte Lena ihm noch nicht einmal zum Vorwurf machen. Auf dem Badezimmerboden sitzen und weinen, war ihre Art der Verarbeitung, seine war Rache. Wie sehr Lena es auch wollte, sie konnte Darian nicht für das hassen, was er getan hatte – sie hasste nur sich selbst. Wenn sie Ronen nicht angegriffen hätte, wäre Lukas vielleicht noch am Leben.

Tavis warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Außerdem, was glaubst du denn, wer dich gepflegt hat, als du fast gestorben wärst?«

Daran wollte Lena lieber nicht denken. Sie mied seinen Blick und fühlte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg, obwohl seine Stimme weder anzüglich noch amüsiert klang, sondern sachlich. Darian hätte an seiner Stelle die Situation vermutlich mit einem süffisanten Grinsen und doppeldeutigen Witzen ausgeschlachtet. Tavis war da anders.

»Lena, dieses Mittel vernebelt deine Gedanken nicht«, sagte der Legionär und fuhr sich mit den Fingern über die Stirn. Er sah müde und abgeschlagen aus, das ließ ihn wesentlich älter wirken als siebenundzwanzig. »Es raubt dir auch nicht deinen Schmerz, aber es lässt ihn erträglicher erscheinen.«

»Du hättest mich fragen sollen. Du fragst mich sogar jeden Tag, ob ich Zucker und Milch in meinen Kaffee will, dabei kennst du die Antwort. Und dann kippst du mir stimmungsaufhellende Mittel in den Kaffee und hältst es nicht für nötig, mich darüber zu informieren.«

»Du hättest nein gesagt.«

»Ja, das hätte ich«, erklärte Lena unumwunden. »Es ist immer noch mein Leben und darüber entscheide ich ganz allein. Was kommt als Nächstes? Streust du mir Schlafpulver in mein Abendessen?«

Tavis' Gesicht versteinerte.

»Ich glaub das einfach nicht! Kennst du denn gar keine Grenzen?« Lenas Stimme klang nicht einmal halb so empört, wie sie es von sich selbst erwartet hätte. Lag das an den Medikamenten, die sie heute mit ihrem Kaffee bereits eingenommen hatte? Oder war das Schlafpulver nach den heimlich verabreichten Antidepressiva kein besonders großer Schritt mehr?

»Es tut mir leid«, sagte er endlich reumütig. »Ich wollte einfach nur, dass es dir besser geht.«

Lenas Blick glitt zu den Scherben auf dem Boden. »Das hat nicht wirklich funktioniert.«

»Die volle Wirkung der Narukirschrinde entfaltet sich erst nach längerer Einnahme, aber kleine Veränderungen können auch schon nach einigen Tagen eintreten.«

Lena warf ihm einen ungläubigen Blick zu, es hatte sich nichts verändert.

»Du redest wieder mit mir«, sagte Tavis.

Kaum zu fassen, dass sich jemand darüber freuen konnte, dass Lena mit ihm stritt, aber Tavis sah tatsächlich etwas glücklicher aus, wenn auch nur ein klein wenig. Er versprach ihr, sie in Zukunft zu fragen, bevor er ihr Medikamente verabreichen würde, und Lena versicherte ihm, dass sie die Einnahme in Erwägung ziehen wollte. Darüber, dass sie log, verlor Tavis kein einziges Wort, er nickte nur verständnisvoll.

In dieser Nacht schreckte Lena wieder aus ihrer Vision über Lukas und Darian hoch. Tavis rollte sich auf ihre Seite des Bettes und legte vertraut seine Arme um sie, dennoch fühlte Lena sich allein. War es möglich, an der Seite eines anderen Menschen in Einsamkeit zu ertrinken? Sie schloss ihre Augen und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie weinte. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder eingeschlafen war.

Als sie erneut wach wurde, war es noch mitten in der Nacht. Etwas stimmte nicht. Sie langte auf die andere Seite des Bettes, aber sie war leer – und kalt. »Tavis?«

Es kam keine Antwort.

Lena war sofort hellwach und ließ einen Spirit erscheinen. Das Appartement war verlassen.

»Tavis?«, fragte sie nun mental, bekam aber keine Antwort. Zögerlich öffnete sie die blaue Tür und rannte durch den Wald zu seinem Gedankengebäude. Die schwarze Festung war noch da, düster und bedrohlich ragte sie in den Himmel, doch egal, wie oft Lena rief, Tavis antwortete nicht. Selbst in der Festung konnte sie seine Präsenz nicht mehr spüren. Erst jetzt fiel ihr auf, wie kalt es war. Die Kälte kroch an ihren nackten Füßen hoch, griff nach ihren Armen und drang durch den dünnen Stoff ihres Kleides. Weißer Atem strömte aus Lenas Mund, sie schauderte. Es war seltsam, denn in ihrem Marmortempel fror sie nie.

Sie kehrte in die Wirklichkeit zurück und setzte sich auf die Couch. Es verging über eine Stunde, aber Tavis kam nicht zurück. Was sollte sie machen? Sie konnte das Appartement nicht verlassen, um nach ihm zu suchen. Niemand wusste von ihrer Anwesenheit hier. Ronen und Pax dachten, sie wäre nach wie vor im Latezerium – das war der Name des gruseligen Kugelsaals – eingesperrt und alle anderen glaubten, sie wäre tot. Schließlich legte sie sich wieder ins Bett und rollte sich zu einem kleinen Ball zusammen.

Ein Geräusch ließ sie aufschrecken. Draußen dämmerte es bereits. »Tavis?«, fragte sie und erhielt diesmal eine Antwort. Es war ein gequältes Stöhnen, das sich eher nach einem verwundeten Raubtier anhörte als nach einem Menschen. Lena sprang aus dem Bett und fand den Legionär in sich zusammengesackt in einem der Sessel.

»Tavis, bist du verletzt?« Sie rüttelte an seiner Schulter, aber er bewegte sich nicht. Sichtbare Wunden konnte sie keine ausmachen. Vielleicht hatte ihn eine von Velizars unsichtbaren Attacken erwischt? »Tavis!« Lena schüttelte ihn und plötzlich öffnete er die Lider – die Augen glasig, der Blick verschwommen.

»Lllena«, lallte er ihren Namen. Er war nicht verletzt, er war sturzbetrunken.

Echt jetzt? Lena stand da, wie vom Blitz getroffen. Das konnte doch einfach nicht wahr sein!

Und als ob sein Zustand nicht schon schlimm genug wäre, holte Tavis eine halbvolle Flasche hinter seinem Rücken hervor und wollte sich noch einen Schluck genehmigen.

»Ich glaube, du hattest schon genug«, sagte sie, aber er schüttelte vehement den Kopf. Sie versuchte, ihm die Flasche zu entreißen, aber er ließ es nicht zu. Mit nur einer Hand schob er Lena zur Seite, denn trotz seines beträchtlichen Alkoholpegels war er immer noch viel stärker als sie. Er führte den Flaschenhals an seine Lippen. Auf keinen Fall durfte er noch mehr trinken! Lena tippte das Glas mit dem Finger an und ließ den Inhalt gefrieren. Tavis hielt die Flasche bereits senkrecht, doch kein Tropfen erreichte seinen Mund. Verwirrt schaute er mit einem Auge in den Flaschenhals hinein und schüttelte das Gefäß, um an den Inhalt zu kommen. Er konnte nicht verstehen, warum nichts herauskam. Es war kaum zu fassen, dass sich ein intelligenter Mensch so aufführen konnte. Achtlos warf er die Flasche auf den Boden und sah hoffnungsvoll zum Sideboard hinüber, auf dem weitere Flaschen standen.

Das wird ja immer besser!, dachte Lena entnervt. Sie sah sich bereits mit Tavis um die Alkoholbestände in seinem Appartement kämpfen. Ein unzurechnungsfähiger Avindan war ein unkalkulierbares Risiko. Lena hatte keine Angst, dass Tavis sie verletzen könnte, aber wohl davor, dass er laut werden würde und vielleicht etwas Größeres kaputt machen könnte, sollte sie ihm den Alkohol verweigern. Sie überlegte krampfhaft, wie sie ihn unschädlich machen könnte, bevor er etwas Dummes anstellte, aber dazu kam es zum Glück nicht mehr. Als Tavis aufstand, konnte er das Gleichgewicht nicht halten und fiel zu Boden. Auf allen vieren stand er inmitten der Glasscherben der zerbrochenen Flasche sowie der Eissplitter des gefrorenen Alkohols und versuchte hochzukommen.

Lena half ihm wieder auf die Beine. Unter seinem Gewicht wäre sie beinahe selbst zusammengeklappt. Ihre noch nicht verheilten Rippen schmerzten und ihre Knie knickten aufgrund der unerwarteten Last ein. Nur dadurch, dass sie sich an einem Sessel abstützte, konnte sie ihr Gleichgewicht überhaupt halten. Es war seltsam, Tavis so zu sehen. Er, der immer alles und jeden kontrollieren musste, hatte noch nicht einmal die Kontrolle über seinen eigenen Körper – oder seinen Verstand. Normalerweise vertrug der Legionär einiges. Wie viel musste er da getrunken haben, um derart abzustürzen?

»Lllena«, lallte er, »esdudmisoooleid.«

Sie spürte seinen scharfen Alkoholatem auf ihrer Wange und versuchte, ihr Gesicht abzuwenden, weil ihr davon schlecht wurde.

»Schon okay«, sagte sie, aber das war es nicht. Es war absolut verantwortungslos gewesen, sich zu betrinken, während sie hier in Lebensgefahr schwebten. Er war der Ältere, also musste er auch der Vernünftige sein, oder etwa nicht?

Widerstandslos ließ Tavis sich von ihr zum Bett führen. Er versuchte es noch zwei weitere Male mit einer gelallten Entschuldigung. Lena wünschte sich, er würde einfach den Mund halten, sie konnte den Brechreiz kaum noch zurückhalten. Sobald sein Kopf das Kissen berührt hatte, schnarchte er auch schon vor sich hin. Die Hände weit von sich gestreckt. Seine rechte Hand war zur Faust zusammengeballt, die linke hatte er an den Glasscherben auf dem Boden geschnitten und es nicht einmal gemerkt. Lena zog ihm die Schuhe aus und holte einen Verband für seine Schnittwunde. Was sich in seiner rechten Hand befand, ahnte sie bereits. Vorsichtig bog sie seine Finger auseinander und nahm die kleine Glaskugel an sich.

Immer wenn Tavis dachte, sie würde schlafen, sah er sich im Pangilon alte Erinnerungen an: Darian, als er noch jünger war und zu seinem älteren Bruder aufblicke; Zahra, als sie noch glücklich waren und sie ihm sagte, dass sie ihn liebte; Ronen, als er ein kleiner Junge war, dessen Herz noch nicht von Dunkelheit zerfressen war.

Nach außen wollte Tavis immer stark erscheinen, aber Lena wusste, wie es in ihm wirklich aussah: Seine Welt war dabei auseinanderzubrechen. Hin- und hergerissen zwischen seinen Brüdern und ihrem unermesslichen Hass aufeinander; zwischen Liebe und Wut für die Frau, die er mehr liebte als sein eigenes Leben, die aber den Tod einem Leben mit ihm vorgezogen hatte. Tavis war innerlich genauso kaputt wie Lena.

Sie ließ mit einer Handbewegung die Eissplitter, von denen die meisten bereits angetaut waren, in den Abfluss schweben und kehrte die Glasscherben zusammen. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, jede Flasche Alkohol, die sich im Appartement befand, ebenfalls in das Waschbecken zu kippen, aber dann überlegte sie es sich anders. Tavis konnte sich in Isaton frei bewegen und jederzeit und überall etwas zu trinken finden. Um ein ernstes Gespräch zu diesem Thema würde Lena nicht herumkommen.

Sie setzte sich in den Sessel, in dem vorher Tavis gesessen hatte, zog ihre Beine an und kuschelte sich in das weiche Polster. Der Pangilon leuchtete in ihrer Hand auf und zeigte ihr auf der durchsichtigen Scheibe ihre eigene verlorene Vergangenheit – Lukas. Er hielt ihre Hand im Planetarium und küsste sie im Park, kurz bevor ihr Glück in tausend Scherben zerbrach. Aber anders als Tavis, versuchte sie nicht, den Schmerz zu betäuben, sondern ließ ihn zu. Ließ ihn über sich einbrechen wie eine Welle und schloss die Augen.

Als Lena aufwachte, hatte sie Rückenschmerzen. Sie hatte sehr unbequem geschlafen und das rächte sich jetzt. Die Sonne stand hoch, es musste bereits Mittag sein. Tavis war noch immer mit seinem Alkoholkoma beschäftigt. Lena nutzte die Zeit, um zu duschen, sich fertig zu machen und aufzuräumen. Mit einem kalten Glas Wasser ins Gesicht brachte sie Tavis schließlich dazu aufzuwachen. Er sah fürchterlich aus: Blutunterlaufene Augen, dunkle Augenringe, zerzauste Haare und ihn umgab ein Geruch, der Lena in den Augen brannte. Der Alkohol drang aus jeder Pore seiner Haut, ganz zu schweigen von seinem Mund. Verwundert betrachtete Tavis den Verband an seiner Hand. Allem Anschein nach konnte er sich nicht daran erinnern, sich verletzt zu haben.

»Lena, ich …«, krächzte er, aber sie unterbrach ihn.

»Nein. Zuerst gehst du duschen und Zähne putzen, dann reden wir.« Ihre Stimme war eisig und das war Tavis nicht entgangen, als er sich aus dem Bett ins Bad schleppte.

Lena wartete einige Minuten, bis er unter der Dusche stand, und öffnete die Badezimmertür. Damit verstieß sie gegen das oberste Gebot ihrer unfreiwilligen Wohngemeinschaft, das es aus gutem Grund gab, wie sie jetzt feststellte. Denn die Abschirmung war zwar aus Milchglas, gewährte Lena aber dennoch eine relativ gute Sicht auf die Rückseite eines durchtrainierten Männerkörpers. Sie streckte ihre Hand nach der Abschirmung aus und ließ das Wasser eiskalt werden. Vor Schreck sprang Tavis zur Seite und knallte gegen die milchige Glaswand, dabei rutschte er aus und fiel hin. Laut fluchend stand er wieder auf. Das schadenfrohe Grinsen, das sich auf Lenas Gesicht ausbreitete, als sie die Tür wieder schloss, half ihr ein wenig, über ihre Wut hinwegzukommen.

»Du bist wütend, ich habe es verstanden«, knurrte Tavis, als er fünfzehn Minuten später mit einem Handtuch um die Hüften aus der Dusche kam. Lena hatte das Wasser nicht wieder warm werden lassen und war beeindruckt, wie lange er es ausgehalten hatte.

Wassertropfen liefen über das schwarze Runenmuster, das sich von seiner linken Brust über den linken Oberarm erstreckte und hinter seiner Schulter verschwand. Diese imposante Tätowierung wurde jedem Jäger bei einer feierlichen Zeremonie in die Haut gebrannt, nachdem er in einem Kampf zum ersten Mal einen anderen Avindan getötet hatte. Es galt als große Ehre, dieses Zeichen zu erhalten – eine ziemlich fragwürdige Ehre, wie Lena fand. Und dass sie in der Lage war, das Mal zu sehen, erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie selbst auch jemandem das Leben genommen hatte.

»Ich habe mich einmal gehen lassen«, sagte Tavis missmutig.

Lena wartete mit ihrer Antwort, bis er sich angezogen hatte, so ließ es sich viel besser mit ihm streiten.

»Und das war einmal zu viel!«, erklärte sie mit verschränkten Armen vor der Brust, als er vollständig bekleidet gegenüber Platz nahm. »Du kannst dich nicht bis zur Besinnungslosigkeit betrinken. Nicht, wenn ich auf dich angewiesen bin. Es hätte weiß Gott was passieren können. Was hätte ich machen sollen, wenn Ronen vor der Tür gestanden hätte, als du nicht ansprechbar warst?«

»Ronen kommt so gut wie nie hierher«, wischte Tavis ihr Argument beiseite.

»Aber komplett ausschließen kannst du es auch nicht. Ich brauche dich, und zwar im Vollbesitz deiner körperlichen und geistigen Kräfte.« Da Tavis sich nicht mehr an alles zu erinnern schien, fand Lena, dass ihm eine kleine Gedächtnisauffrischung guttun würde. Sie nahm das Gedankenfenster in die Hand und ließ die Ereignisse der vergangenen Nacht für ihn sichtbar werden.

Beschämt schloss er mehrmals die Augen, während die peinlichen Bilder über die Scheibe flackerten. »Du hast dir Sorgen um mich gemacht?« In seiner Stimme schwang Hoffnung mit.

»Natürlich habe ich das.« Und das nicht nur um das, was mit ihr passieren könnte, wenn er nicht wieder auftauchen würde, sondern auch um ihn – auch wenn sie ihm die Dinge, die er getan hatte, noch nicht verzeihen konnte. Das würde auch nicht von heute auf morgen passieren. »Ich dachte, du bist verletzt oder noch schlimmer …«

»Es tut mir leid. Das wird nicht wieder vorkommen.« Tavis sah blass aus; es ging ihm ziemlich elend und das lag nicht nur am Alkohol.

»Ich weiß, dass du es schwer hast. Wegen Ronen und Darian und dann noch die Geschichte mit Zahra …«

»Lena, ich habe gestern nicht deswegen getrunken«, gestand er. »Glaubst du, ich merke nicht, wie du dich jede Nacht in den Schlaf weinst? Dann wachst du schreiend auf. – Ich ertrage es einfach nicht mehr.«

Das war das Verletzendste, das Lena je aus seinem Mund gehört hatte. »Du erträgst mich und mein bedauernswertes Dasein nicht mehr?« Deswegen also die Stimmungsaufheller in ihrem Kaffee – damit er sich besser fühlen konnte.

»Was?! Nein!« Tavis schüttelte den Kopf. »Ich bin mir selbst zuwider, weil ich geholfen habe, dir das anzutun. Normalerweise sehe ich nicht, wie es den Menschen ergeht, deren Leben wir zerstört haben. Aus den Augen, aus dem Sinn.« Er hielt einen Moment inne. »Ich ertrage meine eigene Gesellschaft nicht mehr. Kannst du das verstehen?«

Das konnte Lena leider nur zu gut. Tavis ließ sich immer mehr hängen und das war eine Entwicklung, die ihr überhaupt nicht gefiel. Ihr Zweierteam konnte lediglich ein depressives Mitglied verkraften und diesen Part hatte Lena bereits für sich reserviert. Sie musste etwas unternehmen, sie musste Tavis eine neue Perspektive verschaffen.

»Es gibt da etwas, dass ich dir zeigen muss«, sagte sie vorsichtig und holte wieder den Pangilon hervor. »Ich glaube, du verdienst es, die Wahrheit zu erfahr…«

»Nein, tue ich nicht«, fiel ihr Tavis ins Wort und nahm ihr blitzschnell die kleine Glaskugel aus der Hand. »Ich habe schon befürchtet, dass du mir irgendwann erzählen wirst, für wen Zahra mich verlassen wollte. Egal, wer es ist, ich will es nicht wissen.« Er machte einen erbärmlichen Eindruck, aber wenigstens war er nicht wieder dabei, sich Alkohol einzuschenken.

»Tavis, du irrst dich.«

»Also wolltest du mir nicht zeigen, wer es ist?«

Lena wurde nervös – das war der heikle Teil des Gesprächs. »Doch schon, nur ist es eventuell nicht so, wie du denkst.« Sie sah, wie Tavis den Kopf schüttelte, und fuhr schnell fort: »Vielleicht gab es überhaupt keinen anderen Mann, für den sie dich verlassen wollte. Es könnte sein, dass sie gelogen hat.« Die Vision, in der Darian ein Mädchen mit dunklen Locken küsste, schob Lena gedanklich zur Seite – sie log Tavis nicht an, weil sie die Wahrheit selbst nicht kannte. Vielleicht war es eine andere gewesen, mit der sie Darian gesehen hatte?

»Lena, sie hat nicht gelogen. Das weiß ich.«

Diesmal war es an Lena, den Kopf zu schütteln. »Du verlässt dich zu sehr auf deine Fähigkeit. Zahra hat genau das Gleiche gemacht wie ich, als ich dir gesagt habe, dass Darian nicht aus dem Wasser gekommen ist. Sie hat dir nur einen Teil der Wahrheit erzählt, den Rest hast du selbst erledigt, indem du etwas in ihre Worte hineininterpretiert hast.«

»Sie hat gesagt, sie liebt einen anderen mehr als ihr eigenes Leben. Was kann man denn da missinterpretieren?«

Lena schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. »Bei Gesprächen solltest du besser darauf achten, was die Menschen nicht sagen, anstatt darauf, was sie sagen. So hat Zahra nicht gesagt, dass sie dich nicht mehr liebt, das hast du einfach angenommen.«

Tavis' Gesicht wurde finster. »Lena, hör auf damit!«

»Lass mich dir die Vision zeigen!«

»Nein!«

»Wovor hast du Angst? So wie ich das sehe, hast du nichts mehr zu verlieren«, versuchte sie es weiter.

Das sah Tavis anscheinend ganz anders, wusste aber auch, dass Lena nicht nachgeben würde. Er gab ihr den Pangilon zurück und ließ sich entnervt in die Rückenlehne fallen. Es sah so aus, als hätte er beschlossen, es schnell über sich ergehen zu lassen.

Goldenes Licht drang aus der Glaskugel in Lenas Hand. Die Scheibe erschien und plötzlich war der Raum von Sonnenschein und perlendem Lachen erfüllt.

Wattebauschige Wolken zierten einen strahlendblauen Himmel und warfen große Schatten auf eine blumenbedeckte Wiese. Zahra trug ein pastellrotes Kleid, das gut zu ihren dunklen Haaren passte, und steckte sich eine Locke hinters Ohr – es war die widerspenstige Locke, die einfach nicht halten wollte und ihr sofort wieder ins Gesicht fiel.

Zahras Augen strahlten vor Freude, als ihr ein kleiner Junge eine Blume reichte, die er soeben gepflückt hatte. Sie nahm ihn in den Arm, dann strich sie ihm liebevoll die Haare zurück und küsste ihn auf die Stirn. Der Junge hatte die schweren, dunklen Locken seiner Mutter, aber er sah aus wie eine kleine Ausgabe von Tavis …

Mit aschfahlem Gesicht sprang Tavis von seinem Platz auf und rannte ins Bad. Die geschlossene Tür verhinderte allerdings nicht, dass Lena hörte, wie er sich übergab.