Erbarmungslos schlugen die Wellen über Lena zusammen – immer wieder wurde sie unter Wasser gedrückt. Sie wusste inzwischen nicht mehr, wo oben und wo unten war. Die Wassermenge war so gewaltig, dass Lena sie nicht zu kontrollieren vermochte, wie sehr sie sich auch anstrengte. Ein Wirbel aus weißen Luftblasen und dunklem Nass raubte ihr die Orientierung und langsam auch die Kraft.
Alles, was in diesem Moment zählte, war seine Hand, die Lena festhielt. Sie war sich sicher, solange er bei ihr war, würde alles gut werden. Zusammen könnten sie es schaffen. Wie durch ein Wunder waren sie noch nicht an einem der vielen Felsen aufgeschlagen. Nur, wie lange würden sie den eiskalten Wassermassen standhalten können? Sie merkte, wie ihr seine Finger langsam entglitten und verstärkte ihren Griff. Dieses Mal würde sie ihn nicht loslassen. Diesmal nicht.
Die Furcht davor, dass er sterben könnte, gab ihr die nötige Kraft, weiter gegen die Strömung anzukämpfen, aber das eisige Wasser war unerbittlich und zog sie mit sich fort. Ein plötzlicher Ruck und sie wurden auseinandergerissen. Seine Hand war verschwunden. Lenas klamme Finger griffen ins Leere, während sie lautlos seinen Namen schrie. Wasser schoss in ihre Lunge und beendete ihren aussichtslosen Kampf – die dunkelblaue Tiefe färbte sich pechschwarz.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«, fragte Celine plötzlich und holte Lena in die Realität zurück.
Lena spürte den heißen Sand unter ihren nackten Füßen und die sengende Sonne auf ihrer Haut, dennoch fror sie, als wäre sie eben tatsächlich in einem eiskalten, reißenden Fluss gewesen. Mit ihren Gedanken war sie immer noch unter Wasser und rang nach Luft. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, wessen Hand ihr da entglitten war, aber sie kannte die Antwort auf diese Frage. Lukas. Die Kälte in Lenas Körper kroch langsam zu ihrem Herzen. Schnell schüttelte sie den Kopf, um die Vision loszuwerden und ihrer Freundin gleichzeitig ihre Frage zu beantworten.
»Tut mir leid. Ich habe schlecht geschlafen«, sagte sie erschöpft. Das war noch nicht einmal gelogen – sie hatte fast gar nicht geschlafen.
Celine schaute sie mit einem mitleidigen Blick an und strich sich das kurze, blonde Haar aus dem Gesicht. Ihre sonst so helle Porzellanhaut hatte in den letzten Tagen, die sie auf der Insel verbracht hatten, einen bronzefarbenen Teint angenommen. Celine sah aus, als wollte sie Lena jeden Augenblick umarmen.
Schnell rückte Lena von ihr ab, um ihre Freundin nicht noch mehr in Versuchung zu führen, denn sie hasste Mitleid. Richtig bewusst geworden war ihr das erst in den letzten Tagen. Vielleicht weil es in ihrem Leben vorher nicht viel gegeben hatte, wofür man sie hätte bemitleiden können. Das war nun anders.
Von ihrem alten Leben war ihr nichts mehr geblieben: Sie hatte Lukas an die Legion verloren. Ihre Eltern und ihren Bruder hatte sie seit über einer Woche nicht mehr gesehen. Sie waren irgendwo in der Südsee auf Zwangsurlaub – aber dafür in Sicherheit. Wann und ob Lena ihre Familie jemals wiedersehen würde, konnte ihr niemand sagen. Heute würde sie ihre eigene Welt verlassen und das vielleicht für immer.
Ancaltara, flüsterte Lena, aber der Name fühlte sich trotzdem fremd auf ihren Lippen an. Du solltest dich besser daran gewöhnen, das könnte für immer dein neues Zuhause werden!, drängte eine innere Stimme, die leider viel näher an der Wahrheit lag, als Lena glauben mochte. Denn sollte sie den Aufenthalt in Ancaltara überleben, bliebe da noch das Problem mit dem Anahtar, den sie für ihre Rückkehr brauchte und dann nicht mehr haben würde.
Über Ancaltara wusste Lena nicht besonders viel, nur dass Avindan – wie sie selbst eine war – ihre Fähigkeiten dort nicht verbergen mussten. Sie stellte nicht allzu viele Fragen. Warum auch? Bald würde sie diese Welt mit eigenen Augen sehen können.
Darian und Lena hatten sich den ganzen Tag geflissentlich übersehen, dabei hatten sie sich in der Nacht zuvor endlich versöhnt. Doch wenn Lena Darians säuerliche Miene sah, hatte sie das Gefühl, sich alles nur eingebildet zu haben. Er nahm es ihr offensichtlich immer noch übel, dass sie ihn dazu gebracht hatte, Lukas am Leben zu lassen. Er wich ihren Blicken aus und blieb auf Abstand.
»Das mit Darian wird wieder werden«, hatte Fynn versucht, sie nach dem Mittagessen zu trösten. »Er kriegt sich wieder ein. Gib ihm etwas Zeit.«
Lena hatte nur genickt. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie wusste selbst nicht, warum Darian ihr gegenüber so abweisend war.
»Wir springen vom Hotel aus«, wiederholte Celine das, was Lena vorhin nicht gehört hatte, weil die Vision für einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit beansprucht hatte. »Wenn du auf die Erde zurückkehrst, willst du nicht allein auf dieser einsamen Insel landen«, lächelte das zierliche Mädchen aufmunternd.
Da hatte sie allerdings recht, aber es war etwas anderes, das Lena stutzen ließ. Keiner von ihren Freunden hatte vor zurückzukommen, auch Ariana nicht. Insgeheim hatte Lena gehofft, ihre beste Freundin würde auf der Erde bleiben wollen. Daniel ist hier und die Everts – und ich, dachte sie.
Die Sonne stand bereits tief am Horizont und raubte Lena mit ihrem Untergang die verbliebene Zeit auf der Erde. In ihrem provisorischen Camp herrschte schon den ganzen Nachmittag über Aufbruchsstimmung. Alle waren dabei, ihre Sachen zusammenzusuchen. Fynn hatte an diesem Morgen bereits die Betten zurück zum Hotel gebracht, nun waren die Gartenstühle und Kühlboxen dran. Nichts sollte darauf hinweisen, dass sie hier gewesen waren. Lena hob ihre Sachen auf, die im Sand verstreut lagen. Plötzlich merkte sie, dass nicht nur Fynn und die Stühle verschwunden, sondern auch die Mädchen nicht mehr am Strand waren. Kein Geplapper, kein Gelächter, nur das rhythmische Schlagen der Wellen.
Darian stand allein am Wasser und blickte mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck auf das Meer hinaus. Seine Wunden waren immer noch nicht ganz verheilt, obwohl es bei einem gewöhnlichen Menschen vermutlich dreimal so lange gedauert hätte, bis er nach solch schweren Verletzungen diesen Genesungsgrad erreicht hätte.
Celine hatte ihn heute Morgen vergeblich davon abzuhalten versucht, schwimmen zu gehen. Als er ins Wasser gegangen war, hatte sie ihm etwas von Haien und offenen Wunden hinterhergerufen. So verdächtig, wie ihre Augen dabei geblitzt hatten, war es weniger eine Warnung, sondern mehr Wunschdenken gewesen.
Während sich Darian und Fynn ein Wettschwimmen geliefert hatten, hatten Celine und Ariana versucht, Lena in eine normale Mädchenunterhaltung zu verwickeln und sie auf andere Gedanken zu bringen – vielleicht hatte Ariana auch nur sich selbst von ihren eigenen Sorgen abzulenken versucht. Dass Darian in seinen Badeshorts eine gute Figur machte, hatte sogar Celine zugegeben – wenn auch nur widerwillig – und anschließend etwas Unverständliches über Tattoos gemurmelt. Ob sie nun Jungs mit oder ohne Tätowierungen bevorzugte, hatte Lena nicht verstanden.
Sie betrachtete Darians Profil aus einiger Entfernung und wünschte sich, sie würde wissen, was in ihm vorging. Als er sich zu ihr umdrehte und sie dabei erwischte, wie sie ihn betrachtete, wandte sie schnell den Blick ab und widmete sich wieder ihren sandigen Sachen.
»Soll ich dir helfen?«, fragte er freundlich und nahm ihr das Shirt aus der Hand, ohne ihre Antwort abzuwarten. Er machte einfach dort weiter, wo er heute Morgen nach seiner Entschuldigung aufgehört hatte, als hätte es den heutigen Tag nicht gegeben.
Lena riss ihm das Shirt aus der Hand.
»Was ist los?«, fragte er verblüfft.
»Mir war nur kurz schwindelig von der vielen Zuwendung, die du mir heute zuteil werden lässt.«
Darians Augen zogen sich zusammen. »Was ist dein Problem?«
Entweder wusste er es wirklich nicht oder er konnte sogar noch besser lügen, als Lena angenommen hatte.
»Sag du es mir! Warum hast du mich heute den ganzen Tag ignoriert? Ich dachte, wir hätten uns vertragen?«
»Haben wir auch«, antworte er schulterzuckend. »Ich hatte dir nur nichts Besonderes zu sagen. Ich quatsche andere nicht gern mit Belanglosigkeiten ins Koma. Ich bin nicht Celine.«
Diese Ausrede war wirklich lahm und Darian konnte in Lenas Blick sehen, dass sie es ihm nicht abkaufte. »Wo sind die anderen?«, fragte sie, statt das Offensichtliche auch noch auszusprechen.
»Wollen das Hotel und den Garten auf Legionäre und ihre Kreaturen absuchen.«
Für diese Aufgabe eignete Darian sich besser als jeder andere, schließlich war er ein Jäger und konnte Energiesignaturen spüren. Es ergab keinen Sinn, ihn nicht mitzunehmen.
»Sie haben uns allein gelassen, damit wir uns wieder vertragen«, stellte Lena fest.
»Ein wirklich undurchschaubares Manöver von Fynn«, höhnte Darian und lächelte schief. »Jetzt weißt du, warum wir ihn nie die Strategie für unsere Kämpfe planen lassen.«
Für einen Augenblick ließ Lena sich von seinem Lächeln anstecken, doch sofort machte sie ein ernstes Gesicht. So leicht würde sie es Darian nicht machen.
Er räusperte sich. »Wir müssen uns noch umziehen, bevor wir springen.«
Daran hatte Lena noch gar nicht gedacht. »Was trägt denn die modebewusste Avindan in Ancaltara?«
Darian lächelte verschmitzt und ließ seine Augen an ihrem Körper entlang wandern. »Keinen Bikini, soviel kann ich dir schon mal sagen.«
Lena warf ihm einen entrüsteten Blick zu, zog sich das Shirt über und schlüpfte anschließend in ihre Jeanshotpants.
Darian beobachte sie belustigt. »Also meinetwegen hättest du dich nicht anzuziehen brauchen«, sagte er mit einem Augenzwinkern.
Wie machte er das nur? Als hätte jemand einen Schalter bei ihm umgelegt. In der einen Minute war er abweisend und in der nächsten riss er Witze und betrieb Konversation.
»Wir haben dir ein paar Sachen mitgenommen. Keine Sorge, die Umstellung wird für dich nicht so schwer sein. Andersrum ist es schwieriger gewesen.«
»Und was ist mit der Sprache? Ich habe Angst, dass ich dort …«
Darian begann herzhaft zu lachen und ließ Lena nicht ausreden. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, empört von solch einem unhöflichen Verhalten.
»Danke, dass du meine Sorgen teilst. Da geht es mir gleich viel besser.«
Darian winkte ab. »Wäre dein Erwachen wirklich schon im Park gewesen, dann hättest du in der Schule dein blaues Wunder erlebt«, sagte er immer noch lachend. »In dem Moment, wenn Erwachen und die Zersplitterung der Seele stattgefunden haben, verwandelst du dich von einer einfachen Avindan zu einer Weltengängerin und kannst fast jede Sprache der anderen Welten verstehen und sprechen. Was denkst du, wie wir uns unterhalten können? Sehe ich so aus, als ob ich meine Freizeit damit verbringen würde, Vokabeln zu lernen?«
Lena dachte daran, wie Lukas nach dem Vorfall im Park die volle Punktzahl bei einem Französischtest bekommen hatte. Damals hatte sie angenommen, er hätte geschummelt – dabei war er in Wirklichkeit zu einem Weltengänger geworden, ohne dass es jemand gemerkt hatte.
»Auch Französisch?«
Darian grinste. »Natürlich.«
Noch vor ein paar Monaten hätte Lena Purzelbäume vor Freude geschlagen, wenn man ihr gesagt hätte, dass sie nie wieder Vokabeln lernen müsste und alle möglichen Sprachen verstehen könnte. Nichts würde wieder so sein, wie es einmal gewesen war. Sie würde Lukas nie mehr bei Französisch helfen müssen. Er brauchte sie nicht mehr und das traf leider nicht nur auf den Unterricht zu.
Ein Glöckchenklingeln ertönte plötzlich und ließ Lena herumfahren. Darian schaute irritiert in die Richtung der Bäume, aus der es kam.
»Das ist Fynn«, klärte Lena ihn mit einem Schmunzeln auf. Er hatte anscheinend keine Lust mehr, in einen weiteren Streit von ihr und Darian zu platzen. Nach der letzten Auseinandersetzung, die er mitangehört hatte, war das kein Wunder.
Die gute Stimmung schlug um – schlagartig versteifte Darian sich, seine Lippen zogen sich zu einer harten Linie zusammen. Lena konnte praktisch fühlen, wie er sich verschloss. Ehe Fynn aus dem Gebüsch trat, hatte Darian seinen gewohnten Sicherheitsabstand eingenommen.
»Bereit?«, fragte Fynn und reichte Lena eine Hand und Darian die andere. Wohl oder übel musste Darian sich zu seinem Freund – und damit auch zu Lena – begeben. Darüber wirkte er nicht gerade erfreut. Während Lena so tat, als wäre ihr das nicht aufgefallen, quittierte Fynn Darians unmögliches Verhalten mit einem missbilligenden Blick. Der große, breitschultrige Junge mit den harten Gesichtszügen war ein herzensguter Mensch und der netteste Junge, den Lena kannte. Sein raues Erscheinen hatte ihr Angst eingejagt, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, aber nun konnte sie überhaupt nicht verstehen, dass sie sich jemals vor ihm gefürchtet hatte.
Lena genoss für einen Moment den letzten Blick auf ihre ganz persönliche Insel. Sie zog die salzige Luft tief in ihre Lunge und ließ die Sonnenstrahlen auf ihren geschlossenen Lidern tanzen.
Sobald sie Fynns Hand ergriff, verschwamm die Umgebung und sie hatte das Gefühl, erdrückt zu werden. Es war nicht wirklich die angenehmste Art zu reisen, aber Lena hatte sich inzwischen daran gewöhnt und es fühlte sich seltsam vertraut an.
Eine Sekunde später standen sie zu dritt in der großen Hotellobby. Die Spuren des Kampfes hatte Fynn so gut es ging beseitigt. Die kaputten Sofas und der zerschlagene Tisch wurden durch neue Möbelstücke ersetzt. Der blutdurchtränkte, ehemals weiße Teppich war verschwunden, genau wie die blutigen Fußabdrücke, die über den ganzen Boden verteilt gewesen waren. Über dem Loch in der Wand hing nun ein Bild, lediglich der Krater im Marmorfußboden ließ sich weder wegwischen noch verdecken.
»Warum hast du das getan?«, fragte Lena Fynn.
»Es sollte nicht aussehen, als wäre hier drin jemand ermordet worden«, sagte er etwas verlegen und rückte einen Sessel zurecht. »Das Hotel läuft auf deinen Namen«, verkündete er dann aus heiterem Himmel.
Lena wusste nicht, was sie davon halten sollte. Diesen Ort verband sie mit weniger fröhlichen Erinnerungen. Automatisch glitt ihr Blick zur Balustrade. Sie hatte es zum Fenster geschafft, nur warum fühlte es sich nicht so an?
»Du kannst es verkaufen. Ich habe nicht angenommen, dass du hier wohnen willst«, sagte Fynn.
Es war eine nette Geste und eine sehr kostspielige noch dazu, nur wollte Lena weder das Hotel noch das Geld, das es bei einem Verkauf einbringen würde. Sie konnte sich ein höfliches »Dankeschön« abringen, als zum Glück Ariana und Celine die Lobby betraten und sie vor diesem Gespräch retteten.
»Der Garten ist sauber, aber Lukas hat die Schutzbarriere zerstört, als er hier eingedrungen ist«, erklärte Celine. Auch wenn sie seit ein paar Tagen zu gelegentlichen Umarmungsausbrüchen neigte, war sie die Einzige, die sich in Lenas Gegenwart nicht davor scheute, Lukas' Namen in den Mund zu nehmen. Obwohl es jedes Mal aufs Neue schmerzte, gab es Lena auf eigenartige Weise ein Stück Normalität zurück.
Ariana bedachte Celine mit einem eisigen Blick von der Seite. »Je schneller wir hier weg sind, desto besser. Schließlich haben wir heute noch einen anstrengenden Tag vor uns. Wir werden nach Vonna gehen, damit du die Ältesten kennenlernen kannst«, sagte sie an Lena gewandt.
Darian schüttelte den Kopf. »Ich dachte, wir waren uns einig gewesen, dass wir das nicht tun?«
»Du hast es wohl nicht so mit Zahlen, was? Es stand einer gegen drei. Das nenne ich nicht gerade einig«, antwortete Ariana gereizt. »Wir haben keine andere Wahl. Früher oder später werden sie Lena sehen wollen und in Vonna sind wir am sichersten vor der Legion.«
»Nach Vonna zu gehen, ist ein Fehler. Diesen alten Schwätzern vom Devindanat traue ich nicht über den Weg.«
Ariana funkelte ihn zornig an – der Schatten eines Feuers loderte in ihren Augen. »Ich weiß, du fühlst dich über alle erhaben, weil du niemandem mehr verpflichtet bist, aber Fynn, Celine und ich, wir gehören auch dem Devindanat an, nur falls du es vergessen hast!«
Darian sagte nichts dazu, aber sein finsterer Gesichtsausdruck sprach Bände. Wortlos drehte er sich um und ging nach oben.
»Ich dachte, ihr seid alle Mitglieder des Devindanats?«, fragte Lena verwirrt.
»Darian hat sich geweigert, dem Devindanat seine Treue zu schwören«, schnaubte Celine. »Er wird lediglich geduldet. Und ich frage mich ehrlich gesagt immer noch, warum! Ich meine, an seinem Charme und seinem sonnigen Gemüt kann es nicht liegen. Er trägt seine Antipathie für das Devindanat offen zur Schau und für die Dinge, die er sich schon geleistet hat, hätte man ihn hochkant rauswerfen sollen.«
Fynn schaute betreten zur Seite. Er war mit dem Gesagten offensichtlich nicht einverstanden, wollte sich aber nicht ins Kreuzfeuer begeben. Er kannte Celine gut genug, um zu beurteilen, wann sich eine Diskussion lohnte und wann nicht.
Ariana blieb stumm. Auf wessen Seite sie stand, war schwer zu sagen. »Wir sollten uns auch fertig machen«, wechselte sie schließlich das Thema. »Lena, die Sachen für dich habe ich in den Schrank in deinem Zimmer gelegt, als dich Darian hergebracht hat.«
Den Kleiderschrank hatte Lena in den Tagen, in denen sie hier gewesen war, kein einziges Mal geöffnet. Ihre Klamotten hatte sie im Koffer liegen gelassen. Bei dem kurzen Aufenthalt hatte sie das Auspacken für unnötig gehalten.
»Wenn du willst, kann ich sie für dich holen?«, fragte Ariana vorsichtig, doch Lena schüttelte den Kopf.
Ganz langsam öffnete sie die weißlackierte Tür mit der goldenen Nummer »215« und atmete tief durch, bevor sie eintrat. Fast erwartete sie, dass ihr Lukas mit Blitzen in den Augen und seinem schwarzen Messer in der Hand entgegenspringen würde und verharrte in der Tür. Aber nichts geschah, niemand war dort. Der Raum wirkte wie immer, nur das zerwühlte Bett war stummer Zeuge von dem, was sich hier zugetragen hatte.
Die Sachen, die Ariana für sie vorbereitet hatte, waren unauffällig und schlicht: kniehohe, braune Stiefel mit einer Schnürung, eine schwarze, enganliegende Hose aus einem festen Material und ein dunkelblaues, ärmelloses Shirt, das die Länge eines kurzen Kleides hatte. Das Oberteil war aus einem robusten Stoff und musste auf dem Rücken wie ein Korsett zugezurrt werden. Die Sachen waren nicht gerade das, was Lena sich vorgestellt hatte. Sie dachte eher an eine Kampfrüstung, so wie die, die Darian in ihrer Vision getragen hatte. Außer den fehlenden Markennamen, hätten diese Klamotten – zumindest bis auf das extravagante Oberteil – aus jedem beliebigen Geschäft von der Erde stammen können.
Mit einigen Verrenkungen gelang es Lena schließlich, das Oberteil allein zuzuschnüren. Nach einer eingehenden Prüfung im Spiegel musste sie feststellen, dass sie in diesen Sachen älter und irgendwie anders wirkte, nur woran es lag, konnte sie nicht sagen. Ihre blonden Haare lagen gewohnt in sanften Wellen auf ihren Schultern und reichten ihr bis zur Brust. Sie war leicht gebräunt, auch wenn ihr Teint nicht so schön war wie der bronzefarbene von Celine oder der olivfarbene von Ariana, der in der Sonne leicht golden schimmerte. Am ehesten würde Lena ihr verändertes Erscheinungsbild auf ihre azurblauen Augen zurückführen. Sie leuchteten ihr regelrecht entgegen, als bestünden sie aus tausenden von Eiskristallen, diesen Effekt hatte sie früher nicht so intensiv empfunden.
Sie streifte sich die silberne Kette vom Hals, an der ihr Totem hing und betrachtete sich erneut im Spiegel. Ein Mädchen mit langen, blonden Haaren und stechend blauen Augen blickte ihr entgegen. Lena sah immer noch sich selbst, aber ihr eigenes Gesicht kam ihr merkwürdig fremd vor, als würde sie in das Antlitz einer Fremden schauen. Gebannt beobachtete Lena jede Bewegung ihres fremden Spiegelbildes – die Lösung zu diesem Rätsel lag direkt vor ihr, sie konnte sie nur noch nicht erkennen, aber irgendwann, da war sie sich sicher.
Sie legte das Totem an und das seltsame Gefühl verschwand, ihre eigenen Gesichtszüge wirkten wieder vertraut. Der Seelenstein war Segen und Fluch zugleich – einerseits musste Lena so nicht mit der Fremden im Spiegel leben, anderseits verdeckte der Stein lediglich das wahre Problem, er löste es nicht.
Lena schaute sich ein letztes Mal in ihrem Zimmer um, aber im Grunde gab es nichts, das sie noch mitnehmen konnte. Ihre Habseligkeiten hatten sich mit einem Schlag auf das Totem um ihren Hals und das silberne Armband an ihrem Handgelenk reduziert. Normalerweise hatte sie mehr Sachen dabei, wenn sie nur mal abends ins Kino ging. Jetzt reiste sie in eine andere Welt und nahm so gut wie nichts mit. Aber was sollte sie auch mit ihrem iPod oder einem Mobiltelefon in Ancaltara machen? Lena kehrte ihren Sachen den Rücken und schloss die Tür hinter sich. Wenn man doch nur die Vergangenheit genauso leicht hinter sich lassen könnte.
Lena fröstelte, als sie auf die Terrasse trat. Es war ein recht frischer Junimorgen, der sich sofort auf ihren nackten Oberarmen bemerkbar machte. Der Temperaturunterschied zwischen Insel und Hotel war beachtlich, ganz zu schweigen von der Zeitverschiebung, denn hier war die Sonne erst vor einigen Stunden aufgegangen, während sich der Tag auf der Insel schon fast verabschiedet hatte.
Tiefe Furchen im Quarzitboden, die die Nguryklauen dort hinterlassen hatten, erzählten ihre eigene Version der Ereignisse dieser verhängnisvollen Nacht. Lena drehte diesen schrecklichen Erinnerungen genau wie ihren Sachen zuvor den Rücken zu.
Ihre Freunde warteten bereits im Garten auf sie und schlagartig verstand Lena, was Celine damit gemeint hatte, dass Darian seine Antipathie für das Devindanat offen zur Schau trug. Im Gegensatz zu Lena hatten die anderen eher Kleidung an, die nach Kampfrüstung aussah. Ihre Sachen waren an Brust und Schultern mit silbernen Platten verstärkt. Darian hingegen trug seine schwarze Legionärsrüstung und sah genauso gefährlich aus wie in Lenas Vision.
Fynn griff sich verlegen in den Nacken und zögerte einen Augenblick, bevor er sprach: »Lena, wenn wir in Ancaltara sind, darfst du niemandem erzählen, dass du die Fähigkeit hast, in die Vergangenheit zu sehen. Wir wollen das so lange wie möglich geheim halten.«
»Lukas hat seine Gedanken von mir abgeschirmt. Er weiß es also und das bedeutet, die Legionäre werden es auch bald erfahren.« Lena warf beim Sprechen Darian einen flüchtigen Blick zu. Er war es gewesen, der Lukas beigebracht hatte, seine Gedanken abzuschirmen und sie nahm es ihm immer noch übel. »Und ihr habt es doch schon gewusst, als ihr hierhergekommen seid. Dann müsste das Devindanat doch ebenfalls informiert sein?«
Es war Darian, der ihr antwortete: »Ich habe Lukas nur erzählt, dass du Visionen bekommen kannst, wenn er seine Gedanken nicht abschirmt. Er hat sofort angenommen, dass es Zukunftsvisionen sind und ich habe ihn in diesem Glauben gelassen. Früher oder später wird er erfahren, dass man seine Gedanken vor Visionen der Zukunft nicht abschirmen kann, dann wird er eins und eins zusammenzählen. Daran können wir leider nichts mehr ändern.« Lena hörte deutlich den Vorwurf in seiner Stimme. »Das Devindanat weiß nur, dass du in die Zukunft sehen kannst, mehr haben wir nicht preisgegeben.«
Lena nickte, obwohl sie nicht verstand, warum sie ihre Fähigkeit vor den angeblich Guten geheimhalten sollte. Sie versuchte, ihre Stimme locker klingen zu lassen, damit niemand ihre Unsicherheit bemerken konnte, als sie fragte: »Warum bin ich die Einzige, die keine Kampfmontur anhat?«
Ein merkwürdiger Ausdruck schlich sich in Darians Augen. »Na los, Ariana! Erklär es ihr!«, sagte er giftig.
Rote Flecken bildeten sich auf Arianas Gesicht; damit sah sie aus, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige verpasst. Sie war nervös oder wütend – vielleicht auch beides. »Es soll niemand denken, dass du gefährlich bist.«
Lena begriff nicht. »Warum sollte das jemand denken?«
Darian schaute Ariana mit einem überlegenen Grinsen an. »Ja, warum sollte das jemand denken?«
»Sei einfach ruhig! Okay?« Ariana hatte sichtlich Mühe, sich zu beherrschen, während sie mit Darian sprach, und wandte sich wieder Lena zu: »Die Prophezeiung ist nicht eindeutig, wann und zu wessen Gunst du den Krieg entscheiden wirst. Deswegen sind einige im Devindanat nervös darüber, dass du die Seiten wechseln könntest.«
Sich mit Velizar und Tavis zusammentun, um gegen Ariana Krieg zu führen? Diese Vorstellung war so absurd, dass Lena fast angefangen hätte zu lachen, konnte sich im letzten Moment aber zusammenreißen. »Und was soll ich eurer Meinung nach tun?«
»Naiv und einfältig wirken. Dürfte dir ja nicht so schwer fallen?«, spottete Darian.
Lena starrte ihn konsterniert an.
»Sei einfach du selbst«, riet ihr Ariana. »Und du!« Sie richtete ihre lodernden Augen auf Darian. »Sei zur Abwechslung etwas weniger du selbst!«
Darian nahm die Rüge mit einem spöttischen Glucksen hin und fuhr sich lässig durch die dunkelbraunen Haare. Jegliche Kritik perlte an dem Jungen einfach ab.
Die filigranen Runen auf dem Anahtar in Arianas Händen leuchteten in einem rubinroten Licht, genau wie der winzige Phönix, der nun die schwarze Oberfläche zierte. Der goldene Anahtar mit dem Herz aus schwarzem Stein, der die Beschaffenheit eines erloschenen Totems aufwies, hatte sich bereits auf das Mädchen eingestellt. Nur hatte ein echtes Totem keine Runen, war kleiner und reagierte lediglich auf seinen echten Besitzer. Ein Anahtar konnte sich hingegen jedem Weltengänger anpassen und dementsprechend seine Farbe ändern und dessen Spirit darstellen. Es reichte, wenn ein Avindan ihn führte, die anderen mussten sich lediglich fest an den Händen halten und auf gar keinen Fall loslassen – hatten Celine und Ariana bestimmt fünfzig Mal wiederholt. Um zwischen den Welten zu reisen, brauchte man neben dem Anahtar eine zersplitterte Verbindung der Seele zu seiner eigenen Welt und den Willen, wirklich reisen zu wollen.
Lena stand am Ende der Kette und bildete damit den Schluss. Sie hatte den Verdacht, dass die anderen sie für das schwächste Glied hielten und nicht riskieren wollten, sie in der Mitte zu platzieren. Fynn hielt ihre Hand und lächelte sie von der Seite aufmunternd an, denn die Nervosität stand Lena inzwischen ins Gesicht geschrieben.
Gerade als es losgehen sollte, sprang Ariana aus der Reihe und rannte wieder ins Hotel zurück, weil sie etwas vergessen hatte. Lena merkte, wie die Anspannung für einen Moment von ihr abfiel, und ließ Fynn los. Sie hatte Angst, dass sie während des Sprungs seine Hand nicht festhalten könnte oder noch schlimmer, dass ihr Wille, diese Welt zu verlassen, nicht stark genug wäre. Krampfhaft atmete sie ein und aus. Sie war blass und fühlte sich elend. Immer wenn sie in den vergangen Tagen an den Sprung gedacht hatte, schien ihr der Moment weit entfernt zu sein, aber jetzt war es soweit und Lena war sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde.
Sie spürte Darians Blick auf sich und beging den Fehler, ihn für einen Augenblick anzusehen und ihn die Angst in ihren Augen lesen zu lassen. Sofort wandte sie das Gesicht ab, sie wollte ihm die Genugtuung nicht geben, nicht nach dem Spruch, den er eben gebracht hatte.
Zu ihrer Überraschung kam Darian auf sie zu. Zunächst glaubte Lena, er wollte ihr wieder irgendetwas Gemeines an den Kopf werfen, doch stattdessen drängte er sie rücksichtslos zur Seite und stellte sich neben Fynn. Darian ging ihr gehörig auf die Nerven. Der Sicherheitsabstand war vielleicht doch nicht so schlimm. Im Flüsterton tauschten die Jungs nun ein paar Worte aus. Sie sprachen so leise, dass Lena nichts verstehen konnte, obwohl sie direkt daneben stand. Auf diese Weise konnten nur Menschen miteinander kommunizieren, die sich so gut kannten, dass sie wussten, was der andere sagte, ohne dass er es laut aussprechen musste.
Als Ariana nach einer Weile wieder ihren Platz einnahm, hatte Darian nicht vor, seinen zu räumen. Er blieb neben Lena stehen und nun musste sie wohl oder übel ihm die Hand geben. Auch Fynn machte keine Anstalten, den Freund auf seinen ursprünglichen Platz zwischen Ariana und Celine zu verweisen.
Lena versuchte, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die ihr Ariana beigebracht hatte, aber es gelang ihr nicht. Ihr Herz pochte schmerzlich gegen ihre Brust und überlagerte alle anderen Gedanken. Wie in Trance ergriff sie Darians Hand, aber außer ihrem eigenen Herzschlag nahm sie nichts mehr wahr.
Darian beugte sich zu ihr hinunter. »Egal, was passiert, ich werde dich nicht loslassen«, raunte er ihr kaum hörbar zu und sein Griff um ihre Hand verstärkte sich. Die goldenen Tupfer in seinen dunkelbraunen Augen leuchteten ihr entgegen.
In diesem Moment gab Ariana das Zeichen und ein gleißend rotes Licht verschlang die Umgebung. Lena löste ihre Augen nicht von Darians, um einen letzten Blick auf ihre eigene Welt zu werfen. Er hielt nicht nur ihre Hand, sondern auch ihre Augen und Gedanken fest. Das rubinrote Licht, das aus dem Anahtar austrat, riss Lena mit sich fort. Die Welt rauschte in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit an ihr vorbei, während sie sich mit aller Kraft an Darians Hand klammerte.
Genauso plötzlich wie es angefangen hatte, war alles wieder vorbei. Das rote Licht erlosch und gab den Blick auf eine sich drehende, strahlend grüne Landschaft frei. Lena spürte festen Untergrund unter ihren Füßen, aber ihr Herz raste immer noch mit dem rubinroten Licht davon. Plötzlich schüttelte Darian ihre Hand ab, als wäre sie ihm lästig geworden. Damit verlor Lena die einzige Konstante und ihren Halt. Ihre Beine knickten weg und sie fiel unbeholfen auf die Knie. Es war Fynn, der sie auffing und seinen Freund anschnauzte.
»Atme, Lena! Du musst tief ein- und ausatmen!«, sagte Ariana beruhigend und beugte sich über ihre Freundin.
Lena zuckte unter der Berührung leicht zusammen – es war nur ein Reflex, aber Ariana nahm augenblicklich ihre Hand fort. Sie würde Lenas Gedanken nicht ohne Erlaubnis lesen – nicht nochmal – und Lena wusste das auch. Umso mehr ärgerte sie sich über ihre eigene Reaktion und atmete tief durch, bis der Schwindel nach und nach abebbte.
Mit Fynns Hilfe rappelte Lena sich wieder auf. Während ihre restlichen Freunde besorgt wirkten, stand Darian mit einem unbeteiligten Gesichtsausdruck etwas abseits und hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben.
Es war ein sonniger Sommernachmittag, deutlich wärmer als es eben noch auf der Erde gewesen war. Sie befanden sich auf einer blühenden Wiese mit zirpenden Grillen und roten Schmetterlingen, die zwischen violetten Blumen schwebten. Ein riesiger Baum mit weißer Rinde und rosafarbenen Blüten thronte inmitten der Lichtung wie der König des Waldes. Lena hatte dieses Bild schon oft in Arianas Gedankenfenster gesehen, dennoch war sie davon überwältigt. Die Farben waren in Wirklichkeit leuchtender und ausdifferenzierter. Sie ließ es sich nicht nehmen, ihre Hand auf die weiße Rinde zu legen und fühlte die Energie unter der Oberfläche pulsieren. Das war kein gewöhnlicher Baum.
»Willkommen in Ancaltara!«, rief eine bekannte Stimme.
Lena fuhr herum und musste zwei Mal hinsehen, um Mira in einem bodenlangen, silbernen Kleid zu erkennen. Der Stoff schien lebendig zu sein wie ein Spirit, als hätte die junge Frau flüssiges Silber an.
»Ich freue mich, dich wiederzusehen«, sagte sie zu Darian und schien es auch so zu meinen.
Sie sprach in einer fremden Sprache, aber Lena konnte trotzdem jedes Wort verstehen. Sie hatte in letzter Zeit schon viele seltsame Dinge erlebt und Darian hatte sie schließlich vorgewarnt, dennoch war sie überrascht, wie unglaublich es war.
Darian teilte Miras Freude ganz offensichtlich nicht, denn er hatte ihre letzte Begegnung noch gut in Erinnerung. Sein Unterkiefer sah angespannt aus, in seinen Augen tanzten Blitze. Zu einer halbwegs freundlichen Antwort konnte er sich genauso wenig durchringen wie zu einem neutralen Gesichtsausdruck. Wenigstens beschränkte er sich darauf, nur grimmig zu schauen und nicht etwa mit einem von seinen blöden Sprüchen um sich zu werfen. Lena fand, dass er bessere Manieren an den Tag legen sollte – ein Wächter war niemand, zu dem man ungestraft respektlos sein konnte.
Die Wächterin nahm ihm sein unhöfliches Verhalten zum Glück nicht übel, stattdessen lächelte sie freundlich und schloss Lena in eine herzliche Umarmung. Genau wie bei ihrer ersten Begegnung durchfuhr eine seltsame Wärme Lenas gesamten Körper und dauerte solange an, bis Mira sie aus der Umarmung freigab.
Anschließend streckte die Wächterin kommentarlos ihre Hand mit der offenen Handfläche nach oben und Ariana legte den Anahtar hinein – Lenas Hoffnung, nach Hause zu kommen, schwand beträchtlich.
»Lena …« Mira hielt inne und schüttelte den Kopf, als würde sie einen lästigen Gedanken vertreiben. Ihr Blick war schwer und von Kummer gezeichnet. Ganz unerwartet für alle Anwesenden – und offenbar auch für sie selbst – füllten sich ihre Augen mit Tränen, die sie vergeblich wegzublinzeln versuchte. »Pass sehr gut auf dich auf«, sagte sie mit erdrückter Stimme und einem gezwungenen Lächeln, bevor sie verschwand.
Eine Zeit lang schwiegen alle betroffen. Miras bedrückte Stimmung hatte auf sie abgefärbt. Sogar Darian schien sich nicht besonders wohl zu fühlen. Er trat von einem Bein auf das andere und warf Lena verstohlene Blicke zu.
»Wir müssen hier weg«, durchbrach Ariana das Schweigen und sah sich angespannt um, als erwartete sie jeden Moment, angegriffen zu werden.
Diesmal gab es kein grelles Licht, nur Fynn, der sie an einen anderen Ort brachte. Eine wunderschöne weiße Stadt mit kuppelförmigen Dächern und hohen Türmen erstreckte sich vor ihnen. Eine breite mit weißen Steinen ausgelegte Straße führte zu dem großen Eisentor, das in der hohen Stadtmauer eingelassen war. Doch nicht die Mauer hielt Eindringlinge davon ab, die Stadt zu betreten, es war die Barriere, die wie eine überdimensionale Käseglocke über der ganzen Stand und der unmittelbaren Umgebung lag. Der hauchdünne Schutzschild schimmerte leicht golden unter dem Sonnenlicht. Die Energie, die davon ausging, war so gewaltig, dass Lena sie aus der Entfernung spüren konnte, dabei war sie, was Energiespuren betraf, bei Weitem nicht so sensibel wie Darian, der die Barriere mit einem verächtlichen Ausdruck bedachte. Oder meinte er damit die ganze Stadt? Er sah so aus, als könnten ihn keine zehn Pferde dazu bringen, durch dieses Tor zu gehen, doch dann glitt sein Blick zu Lena und er marschierte allein los, ohne auf die anderen zu warten.
»Das ist Vonna! Die Hauptstadt der Avindan und Sitz des Devindanats«, verkündete Fynn stolz und setzte sich ebenfalls in Bewegung Richtung Barriere.