Seele aus Eis

Kapitel i: Licht und Schatten


Lena rannte durch einen schwach beleuchteten, endlos scheinenden Gang. Lediglich vereinzelte, grüne Lichter an der Decke wiesen ihr den Weg. Links und rechts konnte sie Umrisse von verschlossenen Türen erkennen – kurz kam ihr der Gedanke, sich zu verstecken, doch genauso schnell verwarf sie ihn wieder. Wegen der schwachen Beleuchtung wäre sie fast gegen eine Wand gerannt, als der breite Korridor plötzlich nach links abbog. Ihre Schritte hallten laut durch den leeren Flur. Zu laut, dachte sie. Diese Stille war unheimlich. Sie war viel angsteinflößender als die Schreie und der Lärm, gegen die Lena sich innerlich bereits gewappnet hatte.

Sie hörte, wie eine Tür aufgestoßen wurde, und erschauderte bei diesem Geräusch. Er ist frei. Panische Angst drückte gegen ihre Lunge und nahm ihr die Luft zum Atmen, während die schweren Schritte immer näher kamen. Das Brennen in ihrem Oberarm war für Lena kaum zu ertragen – mittlerweile war der Ärmel ihrer Bluse blutdurchtränkt. Trotz ihrer Verletzung versuchte sie, noch schneller zu rennen. Am Ende des Korridors bog sie ein weiteres Mal ab, diesmal nach rechts. Sie hatte es fast geschafft – sie konnte den rettenden Ausgang bereits sehen, doch nach nur wenigen Schritten bekam sie einen kräftigen Schlag in den Rücken. Die Wucht der Attacke schleuderte sie nach vorne. Bevor Lena es schaffte, sich wieder aufzurappeln, wurde sie unsanft auf den Rücken gedreht. Für einen kurzen Augenblick sah sie in die gefährlichen Augen ihres Angreifers, bevor alles von einem gleißenden Licht überflutet wurde, das Lena nicht nur die Sicht nahm, sondern auch einen unvorstellbaren Schmerz durch ihren Körper jagte. Ihr Schrei wurde von den Wänden zurückgeworfen und zerriss die Stille.

Es dauerte eine Weile, bis Lena Bardon sich darüber im Klaren war, dass sie in ihrem Bett lag und ihr gar nichts fehlte. Dennoch atmete sie schwer und war schweißgebadet, fast so, als wäre sie gerade wirklich um ihr Leben gerannt. Es war noch dunkel draußen, als sie das Licht in ihrem Zimmer anknipste. Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass es erst vier Uhr morgens war – viel zu früh, um aufzustehen.

Seit Monaten konnte sie nicht mehr richtig schlafen. Träume, in denen sie von unbekannten Schatten verfolgt wurde oder schwarze Asche, die von einem brennenden Himmel regnete. Im Großen und Ganzen ähnelten sich die Albträume sehr. In ihnen schien Lena immer zu wissen, wohin sie rannte und wer hinter ihr her war, doch sobald sie aufwachte, waren nur verschwommene Bilder und ein beklemmendes Gefühl geblieben. Sie versuchte, sich an das Gesicht ihres Angreifers zu erinnern, aber es war – wie schon etliche Male zuvor – wieder verblasst.

Lena ließ das Licht noch einige Minuten brennen, bevor sie es löschte und ihren Kopf erschöpft auf das Kissen fallen ließ. Sich ihre Albträume im wachen Zustand immer wieder vor Augen zu führen, verstärkte sie nur, als würde ihre Angst sie nähren. Ihre beste Freundin Ariana hatte recht – sie sollte lernen, ihren Kopf frei zu bekommen und am besten fing sie gleich damit an. Sie nahm ihren iPod, der neben der Lampe auf dem Nachttisch lag, und schaltete das neue Album ihrer Lieblingsband ein. Leichter gesagt als getan. Bis sie endlich wieder eingeschlafen war, hatte sie fast alle Lieder des Albums gehört.

Lena wurde erneut wach, als jemand laut gegen ihre Zimmertür hämmerte. »Hey! Aufstehen! Sonst musst du heute laufen!«, rief Daniel durch die geschlossene Tür.

Ihr Bruder war älter als sie und ihre Mitfahrgelegenheit in die Schule. Ziemlich oft drohte er ihr damit, ohne sie zu fahren. Sie hatte die Vermutung, dass es nur ein Bluff war, wollte ihn jedoch nicht auf die Probe stellen.

Lena sah auf die Uhr und sprang sofort aus dem Bett – sie hatte verschlafen, so wie fast jeden Tag. Schnell suchte sie nach etwas Passendem zum Anziehen und stopfte ihre Hausaufgaben in die Tasche. In ihrem Zimmer war es wie immer unordentlich; auf dem Schreibtisch lagen Schulsachen gemischt mit diversem Make-up und Schmuck, ein paar Klamotten lagen auf dem Boden, der Rest hing auf dem Schreibtischstuhl. Ihr Zimmer war nicht besonders groß, aber dafür sehr hell und gemütlich. Andere würden es als chaotisch bezeichnen, aber Lena fand gemütlich besser.

Sie hetzte aus ihrem Zimmer und nun war sie es, die an eine verschlossene Tür klopfte: »Lass mich ins Bad! Ich hab's eilig!« Lena wusste, dass Daniel vor dem Spiegel stand und an seinen Haaren herumzupfte. Sie war sich nicht ganz sicher, aber es hatte den Anschein, als würde er seit Neuestem länger im Bad brauchen als sonst. Vielleicht wegen eines Mädchens? Später würde sie ihn damit aufziehen.

»Du hast es doch jeden Tag eilig. Schon mal was von Weckern gehört?« Mit diesen Worten machte er die Tür auf und ließ Lena eintreten.

Als sie an ihm vorbeiging, wurde sie von seiner Rasierwasser-Duftwelle fast erschlagen. »Gott, Daniel! Badest du jetzt in dem Zeug?« Sie rümpfte die Nase und versuchte, aufs Atmen zu verzichten.

»Zu viel?«, fragte er ernst und sah dabei in den Spiegel, als ob dort die Antwort auf seine Frage zu finden wäre.

»Nicht, wenn du dich von offenen Flammen fernhältst und niemand in deiner Nähe raucht«, lachte sie und atmete dabei noch mehr von dem beißenden Mief ein. Verärgert schob Daniel sie aus dem Bad und verschloss erneut die Tür, ohne dabei auf ihren wütenden Einspruch zu achten.

Als Lena wenig später in die Küche kam, saß dort ihr Vater mit dem Kaffee in der einen und der Tageszeitung in der anderen Hand. »Guten Morgen!«, sagte er kurz und verschwand wieder hinter dem Sportteil. Die Überprüfung sämtlicher Spielergebnisse war für ihn ein fast schon heiliges Ritual, ohne das er morgens nie das Haus verließ. Bei seiner Arbeit widmete er sich dann anderen, noch weniger interessanten Zahlen. Er arbeitete nämlich in der Finanzabteilung eines großen Automobilherstellers – ein todlangweiliger Job, fand zumindest Lena. Sie wusste noch nicht, was sie später werden wollte, aber den Beruf ihres Vaters konnte sie für sich schon mal ausschließen.

Ihre Mutter drückte Lena einen Marmeladentoast in die Hand und lächelte ihre Tochter liebevoll an. »Morgen, mein Schatz. Daniel ist schon im Auto. Du solltest dich besser beeilen.«

Während Lena ihr Frühstück in Rekordgeschwindigkeit hinunterschlang, verstaute ihre Mutter einen Stapel frisch korrigierter Hefte in ihrer Tasche – ihre Mutter arbeitete als Lehrerin an einer Grundschule. Auch diese Tätigkeit hatte Lena aus ihrer Liste von möglichen Berufen entfernt. Ihr fehlte die Geduld mit kleinen Kindern, deshalb konnte sie ihr Taschengeld auch nicht mit Babysitten aufstocken.

Daniel strafte seine Schwester mit einem tadelnden Blick, als sie die Beifahrertür zuknallte. Schnell drehte sie sich von ihm weg, weil sie ein Lächeln nicht unterdrücken konnte und er nicht wissen sollte, dass sie es liebte, wie sie sich jeden Morgen wegen ihres Spät-dran-Seins zankten.

Es hatte schon vor einigen Tagen zu schneien begonnen und hörte nicht mehr auf, dementsprechend sah die Landschaft wie die große Ausgabe einer Schneekugel aus. Aufgrund der Straßenverhältnisse war Daniel gezwungen sehr langsam und vorsichtig zu fahren – eine absolute Seltenheit. Normalerweise war er viel zu schnell unterwegs und bretterte bei Dunkelgelb über die Ampeln.

Lena hatte eindeutig zu wenig geschlafen und hatte deswegen Kopfschmerzen. Daniels penetrantes Aftershave trug nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser fühlte. Es war zwar erträglicher als vorher, aber immer noch viel zu stark. Wenn es nicht so kalt gewesen wäre, hätte Lena ihren Kopf aus dem Fenster gehalten. Oder noch besser, sie hätte ihrem Bruder vorgeschlagen es zu tun, damit sich der Geruch schneller verflüchtigen könnte. Zudem blendete der Schnee ihre Augen. Es tat weh, in der Gegend herumzuschauen, deshalb konzentrierte sie sich auf das Radio. Daniel hatte deutlich bessere Laune als seine Schwester und sang zu ihrem Leidwesen falsch die Melodien aus dem Radio mit – dabei wurden seine katastrophalen Textkenntnisse lediglich von seinen schrägen Tönen in den Schatten gestellt.

»Daniel, lass das Singen lieber sein und konzentrier dich auf die Dinge, die du gut kannst. – Leute vermöbeln zum Beispiel.«

»Kickboxen ist ein Sport. Ich verprügele keine Menschen auf der Straße!« Er schüttelte genervt den Kopf, hörte aber zu Lenas Erleichterung auf zu singen. »Übrigens, wenn wir schon dabei sind: Lukas hat gemerkt, dass ihr nicht da wart, um ihn anzufeuern – und mich übrigens auch«, fügte er schnippisch hinzu.

»Ich habe dir bereits erklärt, warum wir nicht da waren.« Lena drehte das Radio lauter, weil ihr Lieblingssong gespielt wurde und weil sie so der Unterhaltung ein Ende setzen konnte. Es war lächerlich anzunehmen, dass ihr Fehlen unbemerkt bleiben würde. Sie hatte auch so schon ein schlechtes Gewissen, da musste ihr Daniel nicht noch mehr Schuldgefühle einreden.

Die Geschwister schafften es vom Parkplatz ins Innere des Schulgebäudes, ohne von Schneebällen getroffen zu werden. Ariana Evert hatte deutlich weniger Glück gehabt, an ihr war die Schneeballschlacht nicht spurlos vorübergegangen. Ihre pechschwarzen Haare, die ihr bis zur Taille reichten, glitzerten weiß, während sie versuchte, den Schnee mit ihren Fingern herauszukämmen.

»Deine Haare sehen gut aus«, scherzte Daniel und betrachtete sie von allen Seiten. »Lena, ich glaube, so eine Frisur würde dir auch gut stehen. Wenn du mit rauskommst, dann kann ich das gern arrangieren.« Er lachte als einziger über seinen eigenen Scherz und ließ die Mädchen stehen.

Erhobenen Hauptes warf Ariana sich die nassen Haare in den Nacken und schulterte ihre Tasche. Daniels blöden Spruch ließ sie wie gewöhnlich an sich abprallen, das war mit einer der Gründe, warum Lena sie gern hatte. Ariana war Anfang des Schuljahres mit ihrer Familie hierher gezogen. Die Mädchen hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Beide liebten Sport und spielten im selben Volleyballteam, sie lachten über dieselben Dinge, mochten die gleichen Bücher und Filme. Lena hatte das Gefühl, eine Seelenverwandte gefunden zu haben – jemanden, mit dem sie alles teilen konnte. Diejenige, die morgens zuerst da war, wartete immer auf die andere. Meistens war es allerdings Ariana, die auf Lena wartete. Sie hatten das nicht abgesprochen, es hatte sich einfach so entwickelt – ohne Worte. So wie sich vieles zwischen Lena und Ariana ohne Worte abspielte. Manchmal kam es Lena vor, als würde zwischen Ariana und ihr eine Verbindung bestehen, die sonst keiner sehen konnte. Von ihrem Aussehen her waren die beiden Mädchen Gegensätze, doch was das Innere betraf, waren sie Schwestern.

Lena ließ sich auf den Platz neben ihrer Freundin fallen und drehte sich nach hinten um – darauf gefasst, Lukas' anklagendem Blick zu begegnen. Er saß fast immer in der letzten Reihe, weil seiner Meinung nach die Chance, aufgerufen zu werden, mit jeder Sitzreihe geringer wurde. Lena teilte seine Theorie nicht, sonst wäre sie die Erste, die hinten säße. Doch, statt in seine vorwurfsvollen Augen zu sehen, starrte sie auf einen Schopf zerzauster, blonder Haare, die einen Farbton dunkler waren als ihre eigenen. Lukas war gerade abgetaucht, um etwas in seinem Rucksack zu suchen, der auf dem Boden lag. Ungeduldig wartete sie, dass er wieder hochsah, aber er tat es nicht. Er hatte wohl beschlossen, sie zu ignorieren. Das ist nicht gut.

Lena kannte Lukas Melber schon ihr ganzes Leben. Sie konnte noch nicht einmal benennen, wann sie Freunde geworden waren – sie waren es schon immer gewesen. Ihre Mütter waren seit ihrer Schulzeit miteinander befreundet, darum hatten Lena und Lukas bereits zusammen die Krabbelgruppe besucht. Bevor Ariana auf ihre Schule gekommen war, hatte Lena in jedem Fach neben ihm gesessen. Insgeheim hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn in letzter Zeit seltener sah und ihn regelrecht degradiert hatte. Aber er hat auch wenig Zeit für mich, beruhigte sie sich selbst. Er unternahm viel mit seinem Freund Christian und ständig waren irgendwelche Mädchen in seiner Nähe. So richtig ernst schien es ihm aber mit keiner von ihnen zu sein.

Lukas war immer noch nicht unter dem Tisch hervorgekommen, aber dafür hatte Lena Olivers Aufmerksamkeit. Der Junge saß eine Reihe vor Lukas und lächelte sie an. Sie drehte sich schnell weg, damit er nicht auf die Idee kommen könnte, sie hätte sich seinetwegen umgedreht. Genervt schloss sie die Augen und stieß einen Seufzer aus.

 »Was ist?« Ariana schaute ebenfalls nach hinten und verzog das Gesicht. Ihre kastanienbraunen Augen schimmerten rötlich unter den langen Wimpern. »Ich verstehe – Surfer auf sechs Uhr.«

Lena musste kichern. Oliver machte tatsächlich den Eindruck, als wäre er gerade von einem Surfbrett gesprungen. Braungebrannte Haut, extrem weiße Zähne und viel zu lange Haare. Nur, dass es weit und breit weder Strand noch Meer gab und schon gar keinen Sonnenschein. Er hatte wohl eine Dauerkarte im Solarium und auf jeden Fall einen Friseurbesuch nötig.

Ariana holte ihre Sachen aus der Tasche und schmiss sie lustlos auf den Tisch. »Ich glaube, er braucht länger im Bad als wir beide zusammen.«

»Apropos lange im Bad, Daniel dreht total durch. Heute hat er versucht, mir die Geruchsnerven mit seinem Aftershave wegzuätzen. Ich bin fast ohnmächtig geworden, als ich ins Bad kam.«

Ariana grinste. »Weißt du schon, wer sie ist?«

»Nein, er hält sich bedeckt. Aber wenn er nicht anfängt, sparsamer mit seinem Duftwässerchen umzugehen, dann erkennen wir sie an der Atemschutzmaske, die sie tragen muss. Und Mister Aftershave ist übrigens sauer auf uns, weil wir am Samstag nicht da waren.«

»Auf uns? Du meinst wohl eher auf den bösen Mannschaftskapitän, der ein Extratraining angesetzt hat – also auf dich. Außerdem, so sauer kann er nicht sein, denn du musstest heute nicht zur Schule laufen.«

Da hatte Ariana allerdings recht.

Lena war nicht bewusst, dass sie ausgiebig gähnte, bis ihre Freundin sie leise fragte: »Hast du wieder schlecht geschlafen?« Dabei legte sie verständnisvoll ihre Hand auf Lenas Arm.

Jeden anderen hätte Lena angelogen, aber nicht Ariana. Sie brauchte ihre Freundin nur anzuschauen und wusste sofort, was sie dachte – und war sich sicher, dass es andersherum genauso war. Schließlich erzählte sie von ihrem Traum und sogar, nachdem sie ihr Gespräch darüber beendet hatten, bemerkte sie, wie ihre Freundin sie bekümmert von der Seite musterte. Es gefiel Lena nicht, wenn sich jemand unnötig Sorgen um sie machte. Sie überlegte sich ernsthaft, ob sie diese Träume in Zukunft für sich behalten sollte und starrte gedankenverloren aus dem Fenster, bis sie von einer Stimme in die Realität zurückgeholt wurde.

»Lena, wenn mein Unterricht so langweilig ist, dann kannst du gerne gehen. Da ist die Tür!«, sagte der Mathelehrer beleidigt.

Sie entgegnete nichts, obwohl ihr das Angebot sehr verlockend vorkam. Nur, wenn sie jedes Mal gehen würde, weil sein Unterricht langweilig war, dann würde sie gar nicht mehr kommen. Sie starrte in ihr Mathematikbuch und versuchte, so zu tun, als würde sie aufpassen. Diese Disziplin beherrschte sie ziemlich gut – fast so gut wie Lukas.

Den Abschluss dieses Schultages bildete für Lena eine Doppelstunde Französisch, für Ariana war es Latein. Gemeinsam gingen die Freundinnen über den verschneiten Schulhof in das andere Gebäude. Dieses Wetter war für März ziemlich ungewöhnlich, dafür aber sehr schön anzusehen. Leider zwang es Lena auch dazu, ständig auf der Hut zu sein – kaum eine Pause, in der nicht mit Schneebällen geworfen wurde.

In Französisch hatte Lena Lukas als Banknachbarn – das einzige Fach, in dem sie noch zusammensaßen. Heute hatte sie noch nicht mit ihm gesprochen. Immer wenn sie zu ihm rübergeschaut hatte, war er mit dem Rücken zu ihr gestanden und in eine Unterhaltung vertieft gewesen. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er ihr ihre Abwesenheit übel nahm. Normalerweise hätten sie zusammen zu Mittag gegessen, aber er war nicht in der Cafeteria aufgetaucht. Wenn er nicht vorhatte zu schwänzen, dann würde er jetzt mit ihr reden müssen.

Lukas war bereits an seinem Platz und unterhielt sich mit Christian, einem schlaksigen Jungen mit Hornbrille und einer etwas zu langen Nase, der in der Reihe hinter ihm saß. Christian nickte Lena kurz zu und wandte sich wieder ab. Die kühle Begrüßung war eine eindeutige Solidaritätsbekundung für seinen Freund.

Als Lena sich setzte, beendete Lukas sein Gespräch und drehte sich zu ihr um. In dem Moment, in dem sie seine rechte Gesichtshälfte sah, versetzte es ihr einen leichten Stich in die Brust – seine Unterlippe war geschwollen, auf seiner Augenbraue prangte eine noch relativ frische Platzwunde, die zwei kleinen Haftpflaster konnten sie nicht ganz verdecken. Lena suchte sein kantiges Gesicht nach weiteren Blessuren ab, konnte aber nichts entdecken.

»Hey Lena!«, begrüßte er sie freundlich. Falls er sauer war, dann zeigte er es nicht. »Du weißt, dass du meine Lieblingsbanknachbarin bist.« Lukas strahlte sie an.

»Du hast die Französisch-Hausaufgaben nicht gemacht!«, stellte sie fest. Diese Vermutung war nicht weit hergeholt, er machte seine Hausaufgaben in Französisch so gut wie nie. Eigentlich betraf das nicht nur dieses Fach.

»War es viel?« Lukas grinste siegessicher, weil er ganz genau wusste, dass er alles abschreiben durfte.

»Nein, war es nicht. Trotzdem solltest du dich nicht erst fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn darum kümmern!«, mahnte sie und gab ihm ihr Heft.

»Wie war Mathe?«, wollte er wissen, während er hastig die Sätze abschrieb.

»Warum fragst du? Du warst doch auch da.« Lena war über den eigenartigen Unterton in Lukas' Stimme irritiert.

»Du sahst aus, als hättest du mit der Bewusstlosigkeit gekämpft.«

»Ja, und glaub mir, ich wünschte, ich hätte diesen Kampf verloren«, gab Lena müde zurück.

»Scheint dir in letzter Zeit oft zu passieren. Hat es vielleicht mit einer bestimmten Person zu tun?«

Lena zuckte nur mit den Schultern. Sie ahnte, worauf er hinauswollte, weigerte sich aber strikt, auf dieses Thema einzugehen.

»Oliver, Lena? Wirklich? Sag mir bitte nicht, dass du mich wegen dieses Schwachkopfs versetzt hast!« Lukas schaute von seinem Heft auf und musterte Lena eindringlich.

»Hey, ich frage dich auch nicht, mit wem du dich triffst!«, sagte sie barsch.

Sie ärgerte sich nicht über Lukas, sondern über sich selbst, weil sie vor einer Woche wirklich mit Oliver ausgegangen war und dabei das schlimmste Date aller Zeiten erlebt hatte. Vermutlich war es das schlimmste Date, das jemals jemand gehabt hatte, nur Oliver war das nicht so richtig klar geworden. Wahrscheinlich hatte es daran gelegen, dass er ständig damit beschäftigt gewesen war, über sich selbst zu reden und dauernd sein Spiegelbild auf glänzenden Oberflächen zu betrachten. Er hatte sich die Fortsetzung des dümmsten Films der Welt ausgesucht. Das einzig Positive an dem Film war gewesen, dass Oliver nicht gesprochen hatte, während die sinnlosen Dialoge ertönt und die peinlichen Bilder über die Leinwand geflackert waren.

Während des Films hatte er die Armstütze in Beschlag genommen und sich ständig zu Lena herübergebeugt. Die wiederum hatte sich verzweifelt auf die gegenüberliegende Seite ihres Sitzes gelehnt – zu einem wildfremden Mann in den Vierzigern. Seine Begleiterin hatte Lena feindselig in der Dunkelheit angefunkelt. Das Einzige, das noch gefehlt hätte, dachte Lena frustriert, war der Ich-gähne-und-lege-meinen-Arm-um-sie-Move, der aber zum Glück ausgeblieben war.

Als Oliver sie nach Hause gebracht hatte, hatte sie versucht, ihn gleich loszuwerden, doch zu ihrer Enttäuschung hatte er darauf bestanden, sie bis zur Haustür zu bringen.

»Das war ein schöner Abend. Ich bin sehr gern mit dir zusammen«, hatte er gesagt und sich nach vorn gelehnt.

»Ich muss morgen früh raus«, war ihre Antwort gewesen. Das unmissverständliche Zeichen dafür, dass ihr dieser Abend nicht sonderlich gefallen hatte und er nun offiziell zu Ende war. An dieser Stelle war Lena bewusst geworden, dass subtile Anspielungen nicht Olivers Stärke waren, weil er versucht hatte, sie zu küssen. Rechtzeitig hatte sie sich weggedreht, so dass er nur ihre Wange erwischt hatte. Doch, anstatt niedergeschlagen oder verärgert zu sein, hatte er mit sich sehr zufrieden und irgendwie herausgefordert gewirkt.

»Wenn du es genau wissen willst, wir hatten Training«, sagte sie zu Lukas und suchte ihre Tasche nach ihrem Mäppchen ab. Ariana musste es aus Versehen eingesteckt haben. Nun hatte Lena die Wahl zwischen einem vertrockneten grünen Textmarker und einem abgebrochenen Bleistift. Super.

»Und das konntest du mir nicht vorher sagen?«

»Ehrlich gesagt, ich hatte gehofft, bei deinen ganzen Verehrerinnen würde es dir nicht auffallen, wenn Ariana und ich nicht da sind.« Das war eine lahme Ausrede und Lena wusste das auch.

»Es war ein wichtiger Kampf, aber meine Freunde waren nicht da – das zweite Mal hintereinander.« Er wandte sich wieder den Hausaufgaben zu, was eindeutig kein gutes Zeichen war.

»Unser nächstes Spiel ist auch wichtig und das Training war notwendig, das weißt du«, verteidigte sie sich. »Bei deinem nächsten Kampf feuern wir dich an. Versprochen. Wenn du willst, dann bringen wir auch ein Banner mit.« Sie lächelte ihn an und wusste, dass er nicht lange wütend auf sie sein konnte.

Als er die Hälfte der Sätze abgeschrieben hatte, schob er Lena das Heft zurück. »Das wird reichen. Den Kuli darfst du behalten. Ich habe noch einen zweiten und so oft, wie ich mitschreibe, bräuchte ich nicht einmal einen«, fügte er grinsend hinzu.

Krise abgewendet, dachte Lena erleichtert, als Madame Delacroix sich räusperte und die Schüler zum Schweigen brachte.

»Ich habe den Überraschungstest von letzter Woche korrigiert«, verkündete die ältere Dame mit ernster Miene. »Na ja, sagen wir es mal so: Viele von euch hat er doch sehr überrascht. Maximal gab es dreißig Punkte, die man erreichen konnte. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen seid ihr alle im einstelligen Bereich.« Sie lief durch die Reihen und teilte die Arbeiten aus. Die Schüler, bei denen sie gewesen war, sahen alles andere als glücklich aus.

»Netter Versuch!«, sagte sie zu Lukas und legte seinen Test vor ihm auf den Tisch. Lena bekam ihre Arbeit kommentarlos. Sie hatte es immerhin auf dreizehn Punkte gebracht.

»Ich habe zwei Punkte«, sagte er fröhlich und steckte das Blatt weg. »Das sind zwei mehr, als ich gedacht habe.«

Lena wusste, dass seine Fröhlichkeit nur aufgesetzt war. So langsam wurde Französisch für ihn zu einem echten Problem. Ernsthaft darüber reden wollte er allerdings nicht.

»Habt ihr schon eine Strategie für euer Spiel am Samstag?«, fragte er nach einer Weile und kritzelte dabei irgendwelchen Unsinn in sein Heft. Er kam immer zu ihren Volleyballspielen, um sie anzufeuern. Dafür gingen Lena und Ariana auch zu seinen Kämpfen im Kickboxen – meistens jedenfalls.

Lena schrieb die Vokabeln von der Tafel ab. »Warum, willst du sie an das gegnerische Team verkaufen?«

»Nein, ich will sie verschenken. Hast du mal die hübschen Mädels, gegen die ihr spielt, gesehen?« Anschließend schrieb er zur Abwechslung mal etwas von der Tafel ab.

»Nur zu!« Es störte sie nicht, dass Lukas und Daniel ihre Volleyballwettkämpfe dazu nutzten, Mädchen aufzureißen. »Wundere dich aber nicht, wenn dein nächster Gegner über deine Schwachstellen Bescheid weiß.«

»Ich habe keine!«, sagte er sofort. Also an Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht.

»Ach, ja? Wollen wir zu diesem Thema vielleicht deine rechte Augenbraue interviewen?« Lena warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Du weichst fast doppelt so oft nach links aus als nach rechts, weil du genau weißt, dass rechts deine schwächere Seite ist. Du kannst zwar mit deiner Rechten besser zuschlagen, aber verteidigen kannst du dich besser mit deiner Linken.«

»War das alles oder gibt es noch mehr?«

»Natürlich gibt es mehr, aber aus taktischen Gründen werde ich den Rest für mich behalten, je nachdem wie das Spiel am Samstag ausgeht.«

Lukas fuhr sich nachdenklich über die geschwollene Lippe. »Vielleicht überlege ich mir das mit der Strategie nochmal.«

Kurz vor dem Läuten hatte Lena die meisten ihrer Sachen bereits zusammengepackt – sie durfte nicht trödeln, sonst würde Oliver sie wieder auf dem Schulhof abpassen. Als es klingelte, schlug sie hastig ihr Buch zu und stopfte es auch in die Tasche. »Ich muss los. Daniel wartet.«

Es hatte wieder angefangen zu schneien. Die weißen Flocken fielen friedlich vom Himmel und überzogen alles mit einer weiteren Schneeschicht. Lena war schon auf dem halben Weg zum Parkplatz, als Lukas sie einholte.

»Willst du denn gar nicht wissen, wie mein Kampf ausgegangen ist?«, fragte er, während er neben ihr herlief.

»Ich weiß, dass du gewonnen hast.« Sie beschleunigte ihren Gang, aber es war nicht einfach, ihn abzuhängen. Lukas war fast einen Kopf größer als sie und für jeden seiner Schritte brauchte sie eineinhalb. Sie hätte sich diese Sportart nicht ausgesucht, weder für Lukas noch für ihren Bruder. Sie versuchte, sich alle Kämpfe anzusehen, vor allem die, bei denen sie Angst hatte, Lukas oder Daniel könnten sie verlieren. Das kam zum Glück nur selten vor. Hätte sie bei den Kämpfen am Samstag daran gezweifelt, dass die Jungs gewinnen würden, dann wäre sie auf jeden Fall hingegangen.

»Hast du dir gar keine Sorgen um mich gemacht?«, fragte er neckisch.

Auf seine Spielchen hatte Lena heute keine Lust. Als sie nicht antwortete, versperrte er ihr mit einer fließenden Bewegung den Weg. Sie wollte um ihn herumlaufen, aber er ließ sie nicht durch, deshalb blieb sie stehen und sah ihn trotzig an; auf diese Frage würde er keine Antwort bekommen.

»Was ist los mit dir?« Das spöttische Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. Seine stechend grünen Augen musterten sie forsch.

»Nichts.«

»Von Nichts bekommt man keine Augenringe wie ein Pandabär.«

»Vielen Dank für dieses charmante Kompliment.« Lena verschränkte die Arme vor der Brust.

»Belästigt dich dieser Schwachkopf?«

»Nein, tut er nicht.« Eigentlich tat er es doch, aber Lena wollte nicht, dass Lukas sich einmischte. Außerdem hatten ihre Augenringe nicht das Geringste mit Oliver zu tun.

»Lena …«, fing Lukas an. Sorge schwang in seiner Stimme mit.

Sie wusste, woran er dachte und ließ ihn nicht aussprechen. »Es ist nicht … wie damals.«

Ein Schatten huschte über Lukas' Gesicht – die Erinnerung verdüsterte seine Gedanken, Wut flammte in seinen Augen auf, er ballte die Hände zu Fäusten.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Lena beschwichtigend.

Lukas sah nicht überzeugt aus und das konnte sie ihm noch nicht einmal verübeln, damals hatte sie ihn auch angelogen, bis es beinahe zu spät gewesen wäre. Die leichte Unebenheit auf seinem Nasenrücken erinnerte sie jeden Tag daran, was er für sie getan hatte.

»Bist du dir sicher?«, fragte er.

»Ja.« Nur ein Wort von ihr und Oliver würde beim nächsten Bleichen seiner Zähne rund ein Drittel weniger bezahlen müssen.

»Wenn du ein Problem hast, dann kannst du immer zu mir kommen. Das weißt du, ja?«

Sie nickte. Bei dem Problem, das sie hatte, konnte er ihr nicht helfen und erzählen wollte sie ihm auch nichts darüber. Es reichte schon, wenn sie von einer Person besorgt angeschaut wurde. Sie nahm sich vor, heute ins Shoppingcenter zu gehen und sich einen neuen Concealer zu kaufen, um ihre Augenringe in Zukunft besser zu kaschieren.

»Du hast Schneeflocken in den Haaren«, bemerkte Lukas und nahm eine von Lenas Haarsträhnen zwischen die Finger.

Ein herausforderndes Funkeln lag in seinen dunkelgrünen Augen, das bei Lena Unbehagen auslöste – so sah er immer aus, wenn er etwas im Schilde führte. Sie musste unwillkürlich daran denken, wie er sie an den Zöpfen gezogen hatte, als sie noch Kinder waren. Mit einer schnellen Kopfbewegung ließ sie ihre Haare aus seiner Hand gleiten.

Bevor Lukas noch etwas sagen konnte, wurde Lena von einem Schneeball am Oberarm getroffen. Daniel und Ariana standen auf dem Parkplatz und kriegten sich nicht mehr ein vor Lachen. Lukas warf seinerseits einen Schneeball nach Daniel, dem das Lachen schnell verging. Binnen weniger Minuten hatte sich daraus eine Schneeballschlacht – jeder gegen jeden – entwickelt, bei der auch andere Schüler mitmachten, die gerade auf dem Parkplatz waren.

Die anderen hatten bereits etliche Schneebälle geworfen, aber Lena hatte keine Handschuhe dabei und versuchte mehr oder weniger erfolgreich, in Deckung zu gehen. Nachdem sie ein paar Mal von Ariana und Christian getroffen wurde und ihre Sachen voller Schnee waren, entschied sie sich, nun doch aktiv an der Schneeballschlacht teilzunehmen. Sie bückte sich und hob eine Handvoll Schnee auf. Er war nicht so kalt, wie sie befürchtet hatte, aber lange würde sie das ohne Handschuhe trotzdem nicht aushalten können. Während sie noch dabei war, ihren ersten Schneelball zu formen, wurde sie ein weiteres Mal getroffen – diesmal von Lukas. Jetzt reicht es!, dachte sie verärgert und vergaß darüber sogar die Kälte. Der Schnee in ihrer Hand fühlte sich nicht mehr kalt an. Sie presste ihn fester zusammen und schleuderte ihn mit voller Wucht auf Lukas. Dieser bückte sich in letzter Sekunde und der Ball flog in ein hinter ihm geparktes Auto. Vor ihrem geistigen Auge sah Lena bereits, wie der Schneeball mit einem dumpfen Geräusch das Auto traf und auseinanderfiel, doch stattdessen hörte sie ein Knacken und sah, wie die Scheibe einen Riss bekam.

»Sag mal Lena, wirfst du mit Steinen?« Lukas ging zu dem Auto und begutachtete den Schaden.

Die meisten Schüler machten sich bereits aus dem Staub. Lena hatte das Gefühl, ihre Eingeweide wurden schockgefrostet. Ihre Freunde hatten sich vor dem Auto versammelt und schauten sich den sternförmigen Riss in der Scheibe an.

Lena nahm all ihren Mut zusammen, um die Frage zu stellen, über die wahrscheinlich auch schon ihre Freunde nachdachten: »Glaubt ihr, das Auto gehört einem Lehrer?«

Eine eisige Stimme hinter ihr ließ die fünf Jugendlichen aufspringen: »Ja, und ich kann dir sogar sagen, welchem!«

Ihr Physiklehrer stand in seinem braunen Wintermantel auf dem Parkplatz und sah so wütend aus, dass Lena Angst hatte, ihm würde gleich eine Ader auf der Stirn platzen. Am Anfang hatte Lena ihren Physiklehrer nicht gemocht, mittlerweile hasste sie den Mann. Immer wenn er eine Gelegenheit hatte sie bloßzustellen, machte er das auch. Zu Beginn jeder Stunde rief er einen Schüler nach vorne und fragte ihn ab. So sollten eigentlich alle aus dem Kurs nacheinander drankommen, nur schien an seiner Liste etwas nicht zu stimmen, denn jedes vierte Mal war Lena dran.

»Ich weiß ja, dass du nicht gerade eine Überfliegerin in Physik bist, aber wenn man mit etwas Hartem gegen Glas wirft, dann geht es kaputt. Das hätte dir selbst Lukas sagen können.«

Wow, gleich zwei Schüler auf einmal beleidigt! Wahrscheinlich schlägt er innerlich gerade Purzelbäume vor Freude, dachte Lena wütend.

Langsam ging der Lehrer auf die Jugendlichen zu. Lena konnte fühlen, wie sie blasser wurde. Dafür würde sie vermutlich für den Rest des Schuljahres nachsitzen müssen. Ein paar Schritte vor dem Auto rutschte der Mann aus und wäre beinahe hingefallen, wenn er sich nicht an Arianas Schulter festgehalten hätte. Als er sein Gleichgewicht wiederfand, schaute er die Schüler verwirrt an. Niemand traute sich, etwas zu sagen. Schließlich brach ihr Lehrer die Stille: »Verschwindet sofort von hier! Jeder Einzelne!«

Das ließen sich die Anwesenden nicht zweimal sagen, innerhalb von wenigen Sekunden saßen alle im Auto und Daniel fuhr los. Lena war auf dem Beifahrersitz, Lukas, Ariana und Christian saßen hinten.

»Wer von euch ist dafür, dass wir Lena lebenslang Schneeballschlacht-Verbot erteilen?« Lukas lachte über seinen eigenen Vorschlag, der von den anderen sofort einstimmig angenommen wurde.

Lena fehlten noch immer die Worte über das, was gerade passiert war. Sie wusste nicht, welches Ereignis sie vor zehn Minuten noch für unwahrscheinlicher gehalten hätte – dass sie gerade eine Autoscheibe mit einem Schneeball zerbrochen hatte oder dass ihr Physiklehrer sie hatte ungestraft davonkommen lassen.

Daniel fuhr zuerst die Jungs nach Hause und setzte anschließend Ariana ab. Lena sah ihrer Freundin nach, wie sie hinter der großen Eingangstür eines noblen Appartement-Komplexes verschwand und musste daran denken, dass Ariana jetzt eine leere Wohnung und einen Kühlschrank voller Mikrowellengerichte vorfinden würde. Als sich das Auto wieder in Bewegung setzte, richtete Lena ihren Blick auf die verschneite Straße.

»Lena, hör bitte mit dem Vandalismus auf! Ich habe keine Zeit, deine Freunde in der Gegend herumzufahren!«

»Das sind auch deine Freunde«, antwortete sie ihrem Bruder gereizt.

Daniel achtete nicht darauf und fuhr fort: »Ich werde nie wieder sagen, dass du wie ein Mädchen wirfst. Übrigens, heißt das Schneeballschlacht und nicht Eisballschlacht. Das nur zur Info, falls das lebenslange Schneeballschlacht-Verbot irgendwann doch noch aufgehoben werden sollte.«

Lena sagte nichts mehr – sie war so unendlich müde. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen hatte.

Zu Hause ging sie nach oben in ihr Zimmer, ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und setzte sich an ihren Schreibtisch. Erschöpft blickte sie in den Schminkspiegel vor ihr. Der Schlafmangel hatte seine Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen: Sie sah blass aus und hatte schwarze Augenringe, die ihre azurblauen Augen nicht gerade vorteilhaft in Szene setzten. Mit dem Pandabären hatte Lukas nicht übertrieben.

Lena versuchte, über die Müdigkeit hinwegzusehen und nur auf ihre Augen zu achten. Es gab nämlich etwas an ihrem Spiegelbild, das sie nicht einordnen konnte. Für einen anderen Menschen war es nicht sichtbar und wahrscheinlich unmöglich nachzuvollziehen. Zumindest dachte Lena das, denn sie hatte es noch nie jemandem erzählt. Wenn sie längere Zeit in ihre Augen im Spiegel schaute, hatte sie plötzlich das merkwürdige Gefühl, dass ihr eigenes Gesicht nicht mehr ihr gehörte.

Wie konnte es sein, dass man sein eigenes Gesicht fremd fand? Es fühlte sich falsch an. Sehr falsch sogar. Dennoch konnte Lena es nicht sein lassen, diesen eigenartigen Zustand herbeizurufen, als müsste sie sich selbst vergewissern, dass das merkwürdige Gefühl noch da war. Jedes Mal fürchtete sie, es würde nicht mehr verschwinden, sie könnte nicht mehr zurückfinden. Dann würde sie mit der Fremden im Spiegel leben müssen, aber aufhören konnte sie auch nicht. Wie ein Rätsel, das noch nicht gelöst war und nur darauf wartete, entschlüsselt zu werden. Sie fragte sich, ob sie es je verstehen würde, ohne sich dabei selbst zu verlieren.

Lena blinzelte ein paar Mal und das seltsame Gefühl war wieder verschwunden, sie sah ihr eigenes Gesicht vor sich. Erleichtert und gleichzeitig enttäuscht stieß sie einen tiefen Seufzer aus, stellte den Spiegel beiseite und fing an, ihre Sportsachen zusammenzusuchen. Natürlich hatte sie sich gefragt, ob dieses seltsame Gefühl im Zusammenhang mit ihren Träumen stand, aber das mit dem Spiegelbild beschäftigte sie schon seit Jahren und die Albträume hatte sie erst seit ein paar Monaten. Woher die Träume kamen, konnte sie nicht sagen, aber eines war ihr klar: Es wurde schlimmer.

Als die Sporttasche gepackt war und Lena bereits vor der offenen Tür stand, drehte sie sich langsam nach dem großen Standspiegel in ihrem Zimmer um. Fast wäre sie wieder umgedreht und zum Spiegel gegangen, wie eine Süchtige wurde sie davon angezogen. Erschrocken über diesen Gedanken, schüttelte sie den Kopf und ging hinaus.

***

Am Samstag konnte Lena vor lauter Aufregung kaum frühstücken. Sie hatte schlecht geschlafen – noch schlechter als sonst – und versuchte, den Schlafmangel mit Kaffee zu kompensieren. Bislang war ihr Team in dieser Saison ungeschlagen und Lena wollte die Serie heute nicht abreißen lassen. Letztes Jahr hatten sie gegen diese Mannschaft sehr knapp verloren, das durfte nicht noch einmal passieren.

In der Sporthalle war Lena bei weitem nicht die Erste, obwohl sie ihre Eltern dazu gebracht hatte, das Haus früher zu verlassen. Zwei Mal hatte sie zu Hause ihre Sporttasche auf Vollständigkeit überprüft, war aber trotzdem für einen Augenblick erschrocken, als sie einen ihrer Knieschützer nicht sofort in ihrer großen Tasche finden konnte.

Als sich die Mädchen in der Halle warmliefen, sahen sie die ersten Zuschauer auf der Tribüne. Daniel unterhielt sich mit Lukas und Christian, Lenas Eltern standen etwas abseits. Lukas' Augenbraue war immer noch getaped, aber seine Lippe sah wieder normal aus. Oliver konnte sie zum Glück noch nirgends entdecken. Sie wusste aber, dass er kommen würde, die letzten beiden Spiele hatte er auch nicht verpasst.

Die beiden Kapitäne gingen zum Schiedsrichter, um den Aufschlag auszulosen. Lena entschied sich für Zahl und beobachtete, wie der Mann die Münze in die Luft warf. Sie war sich ihrer Sache so sicher, dass sie bereits lächelte, noch bevor die glänzende Münze auf der Handfläche des Schiedsrichters landete. Bei sowas hatte sie immer Glück, so wie jetzt auch, und sicherte ihrer Mannschaft den Aufschlag, das gegnerische Team durfte die Spielfeldseite wählen.

Lena stand neben Emma am Netz, um zu blocken, als sie von ihrer Mitspielerin mit dem Ellbogen angestoßen wurde: »Siehst du den Typ da vorne? Der schaut dich schon die ganze Zeit an.«

Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete Lena, dass Emma damit Oliver meinte, aber der Junge, auf den die Freundin zeigte, war ihr völlig fremd. Lena musste zugeben, dass er ziemlich gut aussah. Er war von großer, schlanker Statur und stach aus der Menge der übrigen Zuschauer regelrecht heraus. Mit einer lässigen Bewegung fuhr er sich durch die dunkelbraunen Haare und ließ sie damit noch ein Stück unordentlicher aussehen. Der arrogante Gesichtsausdruck, mit dem er die Zuschauer neben sich bedachte, zeigte allerdings deutlich, dass er sich für etwas Besseres hielt als die Menschen, die ihn umgaben. Dadurch erschien er Lena auf einen Schlag unsympathisch. Nach dem Reinfall mit Oliver wollte sie sich nicht noch einen selbstverliebten Schönling angeln.

Als sich ihre Blicke trafen, wandte der Dunkelhaarige seinen nicht ab. Lena fand das befremdlich, denn normalerweise schauten Jungs weg, wenn man sie dabei erwischte, wie sie einen anstarrten. Aber dieser hier nicht. Seltsam. Lena wusste, dass sie den Blickkontakt abbrechen sollte, aber gleichzeitig wollte sie nicht die Erste sein, die wegsieht. Der Junge lächelte sie provokant an, als hätte er ihre Gedanken gelesen. In diesem Moment ertönte der Pfiff und Lena hatte keine Wahl, als wegzuschauen und sich dem Spiel zu widmen.

Einige Minuten nach Spielbeginn entdeckte sie Oliver, der nur wenige Schritte von ihren Freunden entfernt stand und überschwänglich winkte. Lukas tat bei seinem Anblick so, als müsste er sich auf die Tribüne übergeben. Erst in diesem Moment bemerkte Lena, dass er etwas in seiner Hand hielt. Es war ein großes zusammengerolltes Stück Stoff. Oh, nein! Hoffentlich ist es kein Banner! Zu spät – Lukas fing bereits an, es zu entrollen. Es war so groß, dass er es nicht allein halten konnte, Christian musste ihm helfen. Auf dem weißen Stoff stand in fetten, schwarzen Buchstaben: LENA FOR PRESIDENT!

Lena starrte ihn verdutzt an.

Als Lukas ihren Blick sah, schaute er sich die Aufschrift an und tat so, als ob er überrascht wäre von dem, was er da las. Dann wendete er das Banner, auf der anderen Seite stand: GO, LENA, GO! Er las noch einmal die Botschaft und nickte zufrieden. Peinlicher ging es wohl nicht mehr! Das nächste Mal würde sie ihn vor dem Spiel durchsuchen müssen. Daniel und Christian fanden es urkomisch und Lenas Eltern, die tausende von Fotos machten, ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, auch davon welche zu schießen, wie die Jungs das Banner hochhielten.

Es fiel Lena schwer, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Hatte Lukas wirklich mit dem Banner kommen müssen? Er hielt es keine Sekunde aus, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Hätte er dann nicht etwas über sich darauf schreiben können? Seine Handynummer zum Beispiel?

Lena hatte Aufschlag und ging mit dem Ball zur Außenlinie. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der jedes Mal mitwippte, wenn sie ging. Mit der linken Hand prellte sie den bunten Ball gegen den Boden und hielt ihn für einen Moment lang fest. Dieser kurze Augenblick der Ruhe half ihr, alle anderen Gedanken beiseitezuschieben und sich nur auf das runde Leder in ihrer Hand zu konzentrieren. Sie warf den Ball in die Höhe, sprang ihm entgegen und ließ ihre rechte Hand darauf niedersausen. Sie wusste, dass die Verteidigerin mit der Nummer Fünf von der rechten Seite des Spielfelds zur Mitte laufen würde. Das hatte Lena vorher schon beobachtet und zielte deshalb nach rechts außen. Bis das gegnerische Mädchen ihren Fehler bemerkte, war der Ball bereits auf dem Boden. Die Zuschauer jubelten, vor allem die Stimmen von Daniel und Lukas waren nicht zu überhören. Die nächsten zwei Punkte machte Lena auf die gleiche Weise. Nummer Fünf warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Drei Punkte waren genug. Diesmal zielte Lena ihrer Gegnerin direkt auf die Brust. Damit war Nummer Fünf vollkommen überfordert, denn anstatt einen Schritt zurückzutreten und den Ball anzunehmen, machte sie einen halben Schritt nach vorn. Der Ball landete hart auf ihrem rechten Oberarm und flog danach ins Aus. Noch bevor der Ball das blonde Mädchen traf, wusste Lena, sie würde ihn nicht annehmen können. Sie war keine besonders gute Spielerin – die schwächste in der gegnerischen Mannschaft, um genau zu sein.

Lenas Blick schweifte über die Tribüne und blieb bei dem dunkelhaarigen Jungen mit dem arroganten Gesichtsausdruck hängen. Alle beobachteten das Spiel, nur er nicht – er beobachtete sie. Unvermittelt starrte er sie an und in seinem Blick lag etwas, das ihr Herz auf eine ungute Weise schneller schlagen ließ.

Als Lena erneut zum Aufschlag ausholte, war sie so verunsichert, dass sie den Ball ins Aus schlug. Nun hatte die gegnerische Mannschaft Aufschlag und alle Zuschauer sahen zu dem Mädchen mit dem Ball hinüber. Alle, nur der Dunkelhaarige nicht, er bohrte seinen Blick weiter in ihre blauen Augen. Leider kostete Lenas Unaufmerksamkeit ihre Mannschaft einen weiteren Punkt. Sie hatte den Ball nicht rechtzeitig gesehen und konnte ihn nicht mehr erreichen. Bei dem Versuch fiel sie auf die Knie und war dankbar, dass sie ihre Knieschützer doch nicht vergessen hatte.

Ariana half ihr hoch. »Alles in Ordnung?«

»Siehst du den Typ rechts auf der Tribüne? Der beobachtet mich die ganze Zeit. Irgendwie finde ich ihn unheimlich.«

»Meinst du den Gutaussehenden, der seine Augen nicht von dir abwenden kann?« Ariana schaute in die Richtung, wo der Junge stand. »Du hast heute deine persönlichen Fanclubs dabei.« Jetzt sah sie auf das Banner von Lukas und lachte in sich hinein. »Mach dir keine Gedanken über den Typ, ich weiß, er ist nicht braungebrannt, aber darf er dich deswegen nicht einmal anschauen?« Das war eine Anspielung auf Oliver. Ariana hatte sie davor gewarnt mit ihm auszugehen – leider vergebens.

Kurz bevor Ariana sich wegdrehte, sah Lena einen flüchtigen Ausdruck über das Gesicht ihrer Freundin huschen und dann traf es sie wie ein Schlag. Es stand niemand im Publikum, der gekommen war, um explizit Ariana anzufeuern. Keine Eltern, die tausend Bilder machten, keine Freunde, die peinliche Banner mit ihrem Namen in die Luft hielten und keine gutaussehenden Jungs, die sie anstarrten. Arianas Eltern kamen nur sehr selten zu den Spielen. Sie liebten ihre Tochter und waren stolz auf sie, das konnte Lena während der vielen Besuche bei den Everts sehen, aber sie waren beide Ärzte und arbeiteten im Krankenhaus, dazu gehörten leider auch Bereitschaftsdienste und Wochenendschichten. Ariana würde es nie zugeben, dass es ihr etwas ausmachte, aber Lena sah oft ihren enttäuschten Blick, wenn sie nicht da waren – so wie heute. Jetzt fiel es ihr noch schwerer, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Ariana tat ihr leid und sie wünschte sich, Lukas würde mit seinem blöden Banner von der Tribüne fallen.

Als Lenas Mannschaft die Seite wechselte, war das Banner inzwischen bei Daniel und ihrem Vater angekommen, wahrscheinlich hatten Lukas und Christian keine Lust mehr, es zu halten. Zu ihrer Erleichterung war der seltsame Junge gegangen, aber Oliver war leider noch da und lächelte sie aufmunternd an.

Nach dem Spiel kam Daniel auf das Spielfeld gerannt: »Lena, das war super! Ihr habt sie regelrecht auseinandergenommen!«

Oliver sah sie mit ihrem Bruder sprechen und entschied sich vorausschauenderweise, einen Sicherheitsabstand einzuhalten.

Zu Lenas Überraschung unterhielt Lukas sich mit Nummer Fünf aus der anderen Mannschaft. Sie sah überhaupt nicht danach aus, als hätte sie gerade Sport gemacht – dabei war sie doch recht häufig sinnlos auf dem Spielfeld herumgerannt. Lena konnte sich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Er lag ihr auf der Zunge, aber er wollte ihr einfach nicht einfallen. Lukas hatte in Französisch wirklich nicht zu viel versprochen – er ließ nichts anbrennen. Sie gab ihm ihre Handynummer, bevor sie ging. Dabei lächelte sie ihn an und schwang mit einer nicht ganz unabsichtlichen Handbewegung ihre blondierten Haare in die Luft.

Zur Feier des Tages lud Daniel Lena und eine Person ihrer Wahl – also Ariana – zum Pizzaessen ein. Ariana freute sich über die Einladung, sonst hätte sie vermutlich wieder allein in einer leeren Wohnung essen müssen, dachte Lena. Ihre Freundin war einsamer, als sie zugeben wollte.

Lena ging mit Ariana zu den Umkleideräumen, als Oliver nach ihr rief. Sie warf ihrer Freundin einen vielsagenden Blick zu, bevor sie sich umdrehte.

»War ein tolles Spiel!«

»Danke«, gab sie verhalten zurück und wünschte sich, Ariana hätte ihren Blick richtig interpretiert, denn anscheinend hatte sie 'Du kannst ruhig gehen!' verstanden, stattdessen hatte Lena 'Bitte lass mich nicht mit ihm allein!' gemeint. So viel mal zu der wortlosen Kommunikation zwischen ihnen.

»Wir wollen heute Abend im Tukan feiern, wenn du auch kommst, dann könnten wir …«

Weiter kam er nicht, denn Ariana hatte den Blick doch richtig gedeutet und kam ihr zur Hilfe. »Lena, wir warten schon auf dich! Wo bleibst du denn?« Sie packte Lena am Arm und zog sie mit sich fort.

»Du musst ihm sagen, dass du nichts von ihm willst«, riet Ariana, als Oliver außer Hörweite war.

»Das habe ich schon. Zwei Mal. Er wollte es nicht hören. Dieser Typ ist einfach unglaublich.« Vielleicht hätte Lukas ja das auf sein Banner schreiben sollen.

***

Ariana setzte sich auf die rotgepolsterte Sitzbank der Pizzeria und strich sich den Pony aus der Stirn. Als Lena den Platz neben ihrer Freundin ansteuerte, wurde sie rücksichtslos von Daniel abgedrängt. Er quetschte sich an ihr vorbei und setzte sich neben Ariana, damit hatte er sich verraten. Ariana war das Mädchen, das bald eine Atemschutzmaske brauchen würde. Jetzt weiß ich wenigstens, was ich ihr zum Geburtstag schenken kann, dachte Lena amüsiert und nahm auf der gegenüberliegenden Sitzbank Platz. Daniel grinste bis über beide Ohren. Wenn er lächelte, wurden kleine Lachfältchen um seine Mundwinkel sichtbar, das hatte er von seinem Vater geerbt.

Lena warf ihrem Bruder einen bedeutungsvollen Blick zu, woraufhin er versuchte, sich das dümmliche Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, aber es gelang ihm nicht so ganz. Irgendwie war es süß, die beiden zusammen zu sehen. Sie würden kein schlechtes Paar abgeben, gestand Lena sich ein.

Lukas ließ sich auf den freien Platz neben ihr fallen und legte seinen Arm auf die Rückenlehne hinter ihr. Christian nahm sich einen Stuhl. Als sie jünger waren, konnten sie locker zu dritt auf dieser Bank sitzen. Diese Zeiten waren vorbei.

Lukas wartete, bis die Bedienung ihre Bestellung aufgenommen hatte und sagte feierlich: »Glückwunsch zu eurem Sieg!«

»Dir auch einen Glückwunsch zu deinem!«, sagte Lena grinsend. »Tröstest du die ganze Mannschaft oder nur ihre mieseste Spielerin?«

Lukas zog seinen Arm weg, als ob er plötzlich Angst bekommen hätte, ihn zu verlieren. »Ich wollte ihre Nummer gar nicht haben. Sie hat sie mir einfach gegeben.«

»Du Armer!«, sagte Lena mit gespieltem Mitleid und nahm ihre Hände von der rot-weiß-karierten Tischdecke, denn die Bedienung kam mit ihren Getränken.

Christian warf Lukas einen warnenden Blick zu, der so viel hieß wie: Halt besser die Klappe, du Idiot! Alles, was du sagst, wird gegen dich verwendet werden!

Lukas nahm sich diesen stummen Rat wohl zu Herzen, denn er sagte kein Wort mehr, bis die Bedienung ihre Bestellung brachte und er blieb auch während des Essens ruhig. Vielleicht lag es nicht nur an dem Rat, sondern daran, dass er zu beschäftigt damit war, die Pizza hinunterzuschlingen. Die Jungs aßen so schnell, dass im Handumdrehen nichts mehr übrig war. Gierig schaute Lukas auf das Pizzastück, das noch auf Lenas Teller lag.

»Heute Abend wird gefeiert!«, verkündete Christian enthusiastisch und schob seinen leeren Teller beiseite. Daniel stimmte ihm sofort zu. Er war sonst nicht so erpicht darauf, mit seiner kleinen Schwester um die Häuser zu ziehen, aber die Erklärung für seinen Sinneswandel lag klar auf der Hand.

»Ich glaube, ich habe mir einen Tanz verdient.« Lukas schnappte sich Lenas Pizzastück und biss davon ab. »Meinst du nicht?«, fragte er mit vollem Mund und blickte sie an.

»Warum denn das?« Lena nahm ihm das Pizzastück wieder aus der Hand. Er dachte wohl, sie würde es sich nicht mehr zurückholen, da er schon davon abgebissen hatte, aber er irrte sich.

»Zuerst einmal bin ich zu deinem Spiel gekommen«, er bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick, »und dann habe ich mir sehr viel Mühe mit dem Banner gegeben.«

Oh, ja! Das Banner! Das hatte Lena schon fast vergessen. Christian schüttelte kaum merklich den Kopf.

Lena war nervös, denn der Eintritt im Tukan war ab sechzehn und das war sie als einzige noch nicht. Sie war zwar schon ein Mal drin gewesen, aber nur weil der Türsteher von Arianas Ausschnitt so abgelenkt gewesen war, dass er vergessen hatte, Lena nach ihrem Ausweis zu fragen. So viel Glück würde sie dieses Mal bestimmt nicht haben.

»Vielleicht sollten wir wieder gehen?«, fragte sie unsicher, während sie in der Schlange standen.

»Keine Sorge, wir schmuggeln dich schon rein.« Daniel nahm seine Schwester kurz in den Arm.

»Du bist ein echtes Vorbild«, lachte sie. Doch das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, als sie Nummer Fünf mit ihren Freundinnen in der Schlange ein paar Meter hinter ihnen erblickte. Na, toll! Sollte sie jetzt an der Tür abgewiesen werden, wäre es megapeinlich.

Mit jedem Schritt wurde Lena immer mulmiger zumute. Noch sieben Personen vor ihnen. Noch fünf. Noch zwei.

»Ausweis!«, sagte ein grimmig aussehender Türsteher.

Alle holten ihre Ausweise hervor, wobei Lena am liebsten schon zum Auto gerannt wäre. Wenn der Türsteher nicht gerade blind war, würde er sie nicht reinlassen. Der Mann schaute sich zuerst die Ausweise der Jungs an. Lukas warf Lena einen verstohlenen Blick zu, er dachte wohl das Gleiche wie sie.

Dann war Ariana an der Reihe. Sie nahm dem Türsteher den Ausweis aus der Hand, so dass ihre Finger seine berührten und lächelte ihn an. »Das ist ein schreckliches Foto«, sagte sie verlegen.

Der Mann schaute überrascht hoch und musterte sie eingehend. Den schüchternen Augenaufschlag beherrschte Ariana perfekt.

»Das ist ein wunderschönes Foto, aber trotzdem wird es dir nicht gerecht«, lächelte der Türsteher zurück. »Ihr dürft rein.« Er winkte die Mädchen durch, ohne auf Lenas Ausweis auch nur einen Blick geworfen zu haben.

»Du bist schamlos!«, sagte Daniel zu Ariana, als sie drin waren. Seine Stimme war eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Bewunderung. Ariana schaffte es wirklich, jeden um den kleinen Finger zu wickeln.

Lena bezahlte den Eintrittspreis – Daniels Großzügigkeit hatte nur für das Essen gereicht – und holte sich einen Stempelabdruck auf die Innenseite ihres Handgelenks ab. Letztes Mal hatte es mehrere Tage gedauert, bis der Abdruck abgegangen war – dafür war nur gefühlte hundert Mal Händewaschen nötig. Lena hatte schon geglaubt, sie hätten ihr den Club-Namen auf die Hand tätowiert. Deshalb machte sie dieses Mal nicht den Fehler, ihren Handrücken für den hässlichen Stempel hinzuhalten.

An der Garderobe gaben sie ihre Jacken ab und gingen hinein. Drinnen war es voll und die Tanzfläche quoll regelrecht über. Zusammen liefen sie in die Mitte des Saals – besser gesagt, sie kämpften sich durch die Menge. Hätte Lena Ariana nicht an der Hand gehalten, wäre sie bestimmt in der Masse der tanzenden Jugendlichen verloren gegangen. Die Stimmung war ausgelassen und die Musik gut. Sie tanzten und durch die Lasershow und den künstlichen Nebel sah es so aus, als würden die Leute in einem grünen Lichtermeer versinken. Lenas Lieblingslied erklang und Lukas war plötzlich bei ihr.

Er beugte sich zu ihr vor, so dass sie ihn besser verstehen konnte. »Tanzt du mit mir?«

»Ich tanze schon die ganze Zeit mit dir. Wir tanzen hier alle zusammen.« Lena machte eine kreisförmige Bewegung mit der Hand und zeigte dabei auf Ariana, Daniel, Christian und noch ein paar andere Freunde, die sich ihnen angeschlossen hatten.

»Das hört sich für mich nach einem Ja an.«

Noch bevor Lena etwas einwenden konnte, lag seine Hand auf ihrer Taille. Wie selbstverständlich nahm er Lenas Hand in seine und riss sie mit sich. Völlig überrumpelt ließ sie sich von ihm führen. Aus den Augenwinkeln sah sie ihre Freunde lachen und musste selbst schmunzeln, weil dieser Tanz überhaupt nicht zu der Musik passte, die gerade gespielt wurde.

»Dir ist schon klar, wie lächerlich das aussieht?«, fragte sie ihn amüsiert und schüttelte den Kopf.

»Du hast Glück, mir ist nämlich egal, dass du dabei lächerlich aussiehst.« Lukas lächelte und da war wieder etwas in seinem Blick, das ihr schon in der Schule aufgefallen war. Die Musik wechselte und er ließ Lena unvermittelt los. Die Lasershow war einem aufblitzenden Licht gewichen. Das grelle kurze Aufleuchten ließ Lukas' Gesicht und die Umgebung surreal erscheinen. Es wirkte wie eine Aneinanderreihung vieler Momentaufnahmen, aber so schnell, dass Lena seinen Gesichtsausdruck nicht mehr deuten konnte.

Verdattert sah sie Lukas dabei zu, wie er mit Christian an die Bar ging, um Getränke zu besorgen. Auf halbem Weg dorthin wurde er von Nummer Fünf aufgehalten. Bei einem Aufblitzen war sie noch nicht da und beim nächsten flüsterte sie ihm bereits etwas ins Ohr. Sie hatte so lange Beine in ihrem kurzen schulterfreien Kleid, dass selbst Lena nicht wusste, wo sie hinschauen sollte. Natürlich war es laut und sie musste ganz nah an ihn herantreten, aber wie ihre Hand um seinen Hals lag, zeigte, dass sie sich ganz schön ins Zeug legte und Lukas schien ein williges Opfer zu sein. So wie Lena ihn kannte, würden die Getränke eine Weile auf sich warten lassen.

Beim Tanzen sah sie die Gesichter ihrer Freunde aufflackern und ließ das bizarre Schauspiel auf sich wirken, bis plötzlich ein Gesicht auftauchte, das sie nicht erwartet hatte. Sie erstarrte in der Bewegung. Der dunkelhaarige Junge vom Volleyballspiel blickte sie für den Bruchteil einer Sekunde im grellen Licht an, doch beim nächsten Aufleuchten war er verschwunden. Ehe Lena selbst begriff, was sie tat, drängte sie sich an den anderen Jugendlichen vorbei, um an die Stelle zu kommen, wo sie ihn gesehen hatte. Sie sah sich in der Menge um, konnte ihn aber nicht entdecken. Das nervige Licht erschwerte ihre Suche. Drei Mal tippte sie aus Versehen jemand Falsches an und erntete dafür argwöhnische Blicke. Aber der Junge, den sie suchte, war nicht mehr da. War er überhaupt hier gewesen? Lena befand sich in einer Sackgasse – er hätte auf jeden Fall an ihr vorbeikommen müssen, wenn er tatsächlich hier gewesen wäre. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet?

Lena stand verloren in der Menge und fragte sich, warum sie überhaupt nach ihm gesucht hatte, als sie etwas von der Decke rieseln sah. Alle Tanzenden um sie herum streckten wie auf Kommando ihre Hände nach oben. Lena ließ eine der herabfallenden Flocken auf ihrer Handfläche landen und zerrieb sie mit den Fingern. Es handelte sich dabei um schwarze Asche. Entsetzt schaute sie nach oben und blickte in einen brennenden Himmel, fast hätte sie aufgeschrien vor Schreck. Ein Feuerwall erstreckte sich über ihr und den Köpfen der Anwesenden. Lena blinzelte ungläubig und plötzlich starrte sie, anstelle eines brennenden Himmels, einen roten Spot an, der von der Decke hing und ihr direkt ins Gesicht leuchtete. Es regnete auch keine Asche – in Wirklichkeit war es Kunstschnee. Kleine Schaumflocken, die von einer Maschine abgefeuert wurden und den Eindruck erweckten, es würde drinnen schneien. Als ob es draußen nicht schon genug Schnee gäbe.

Die Müdigkeit und diese verdammten Lichtblitze waren keine gute Kombination. Lena fing an, sich Dinge einzubilden, die eindeutig nicht da waren. Die Musik dröhnte lauter und schien sie von allen Seiten zu erdrücken. Oder kam es ihr nur lauter vor? Sie versuchte tief ein- und auszuatmen, aber es half nichts. Der Sauerstoff hier drin war schon längst verbraucht. Wieso fiel es außer ihr sonst keinem auf? Lena fühlte sich nicht gut und das Blitzlicht machte es nur noch schlimmer. Sie brauchte dringend frische Luft und eine Beleuchtung, die keine epileptischen Anfälle auslösen konnte. Rücksichtslos quetschte sie sich an den anderen Clubbesuchern vorbei, um so schnell wie möglich nach draußen zu gelangen.

Es war eiskalt und vor dem Eingang standen nur Raucher, die nicht einmal die Kälte abschrecken konnte. Außerdem hatten diejenigen, die so verrückt waren, draußen zu stehen, alle Jacken an. Lena machte ein paar Schritte zur Seite, um vom Zigarettenqualm wegzukommen. Sie würde gleich wieder hineingehen müssen, wenn sie sich keine Lungenentzündung holen wollte, aber ein paar Minuten brauchte sie noch. Krampfhaft schnappte sie nach Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Ihre Fantasie war gerade mit ihr durchgegangen. Entweder hatte sie heute zu viel oder nicht genug Kaffee getrunken.

Lena hatte auf einmal das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden und schaute sich um. Im Schatten zwischen zwei Häusern blitzte etwas auf. Sie versuchte zu erkennen, was es war, konnte aber in der Schwärze nichts ausmachen. Dann sah sie das Aufblitzen erneut – da war jemand in der Dunkelheit. Dieses Wissen löste bei Lena ein mulmiges Gefühl aus, aber gleichzeitig schien es sie zu locken. Sie machte einen Schritt nach vorn und dann einen weiteren. Ihr Puls raste, während alle Geräusche in den Hintergrund traten. Die Kälte war einer seltsamen inneren Hitze gewichen, die Lena weiter vorantrieb. Was tust du denn da?, fragte eine vernünftige Stimme in Lenas Innerem und brachte sie dazu innezuhalten. Mit rasendem Herzen starrte sie in die Dunkelheit und kämpfte gegen den Wunsch an, darauf zuzugehen.

»Lena, da bist du ja!«, sagte plötzlich jemand hinter ihr und ließ sie zusammenzucken. Sie wirbelte herum und sah Oliver – frisch vom Surfbrett gehüpft. Ungefragt legte er ihr seine Jacke um. »Dir muss doch kalt sein.«

»Danke.« Verblüfft, dass er unter seiner Jacke kein Hawaii-Hemd trug, ließ Lena sie auf ihren Schultern liegen und drehte sich noch einmal nach dem Schatten um, aber Oliver war um sie herum gelaufen und verdeckte ihr nun die Sicht.

Das war der Moment, ihm seine Jacke zurückzugeben und ihm noch eine Abfuhr zu erteilen – diesmal eine sehr deutliche. Lena wollte gerade ansetzen, als Lukas sich zu ihnen gesellte. Die Haare zerzaust, die Wangen gerötet: »Ich habe dich überall gesucht.« In seiner Stimme schwang ein Vorwurf mit, während er mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck Olivers Jacke an ihr musterte. Ab und zu ging sein Beschützerinstinkt mit ihm durch und leider litt auch Daniel sporadisch unter diesen Anfällen. Keiner hatte das Recht, sich in Lenas Leben einzumischen und ihr zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Das machte sie ja auch nicht – weder bei Daniel noch bei Lukas.

    »Ja, ganz intensiv, wie ich sehe. Du hast übrigens Lipgloss im Gesicht. Ich würde ja sagen, Pink ist nicht deine Farbe, aber das musst du selbst wissen.« Lukas rieb sich sofort die Wange – nur war es die falsche. Lena gab Oliver seine Jacke zurück und warf einen letzten Blick auf den Schatten zwischen den Häusern, bevor sie die Jungs draußen stehen ließ.