Seele aus Donner

Kapitel I: Seelenbann


Die Finsternis breitete sich immer weiter aus, aber noch konnte Lena Ariana klar erkennen. Ihre schwarzen Haare schimmerten feurig. Sie griff in die Luft und ein rotgoldener Bogen erschien in ihrer Hand. Blutrote Rubine zierten die Wurfarme der filigranen Waffe.

Ein tiefer Atemzug, dann schloss Ariana die Lider, um die Tränen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten, ihre Wangen hinunterlaufen zu lassen. Die nassen Spuren verdampften auf ihrer Haut.

Ariana spannte die glühende Sehne des Bogens. Ein Pfeil aus Feuer erschien zwischen ihren Fingern und verfestigte sich zu einem tödlichen Geschoss aus rotem Gold, das sie auf das Herz ihrer Freundin richtete. Es würde ein schneller Tod werden.

Die meisten Jäger hielten den Bogen für eine ehrlose Waffe, weil sie seinem Erschaffer das Töten auf Distanz ermöglichte, was für Jäger als unpersönlich und feige galt.

Als Lena in die schmerzerfüllten Augen ihrer Freundin blickte, konnte sie die Meinung der Jäger nicht teilen, denn Töten war persönlich, das war es immer.

Ariana ließ den Pfeil los und schloss in diesem Moment ihre Augen, als würde sie sich wünschen, ihr Ziel nicht zu treffen, aber sie traf immer.

Der Pfeil war zu schnell, um ihn sehen zu können, nur das Geräusch, mit dem er die Luft zerschnitt, konnte Lena in der zunehmenden Finsternis wahrnehmen. Als sich das Metall in ihre Brust bohrte, schnappte sie nach Luft und es fühlte sich an, als würde sie puren Schmerz atmen. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund und das Brennen in ihrer Brust wurde übermächtig. Wie sie zu Boden fiel, bekam sie kaum noch mit, aber die Finsternis verschwand – genau wie alles andere.

Licht flutete den Raum und blendete Lenas Augen. Sie schloss die Lider und wartete auf das Abklingen der Vision. Es war, als könnte sie immer noch das Blut schmecken und das Brennen in ihrer Brust spüren.

Die Tür wurde geschlossen und hüllte Lena und ihre düsteren Gedanken wieder in wohltuende Dunkelheit. Gestern Nacht waren sie in die Festung von Isaton eingedrungen und hatten Tavis und die Jäger gerettet. Ein Sieg, der sich nicht wie einer anfühlte.

»Hier bist du. Ich habe dich schon überall gesucht«, sagte Ariana und ließ einen Spirit zur Decke fliegen, der alles in ein feuriges Leuchten tauchte. Sie ließ sich neben ihrer Freundin auf dem Boden nieder. »Warum sitzt du hier allein im Dunkeln?«

Für Lena war es ein seltsames Gefühl zu sehen, wie besorgt Ariana um sie war, wo sie doch gerade eben noch auf sie geschossen hatte. Leider war Lena auch bewusst, dass ihre Freundin so etwas niemals grundlos tun würde, deswegen gab es nur eine logische Erklärung für diese Vision: Eine von ihnen war nicht mehr sie selbst gewesen. Und Lena wusste auch, wer. Sie zog die Knie enger an ihren Körper. »Ich bin nicht allein.«

Arianas Blick glitt zu Zahra in der Sphäre und kehrte schließlich wieder zu Lena zurück. Mitleid lag in ihren Augen. Sie wusste genau, dass ihre Freundin nicht die junge Frau gemeint hatte. »Willst du darüber reden?«

Lena schüttelte den Kopf. Ronens Wut war abgeklungen, der Kampf war vorbei – vorerst.

»Willst du darüber reden?«, fragte Lena stattdessen.

Arianas Blick glitt erneut zur Sphäre, dann vergrub sie das Gesicht in ihren Händen. »Ich weiß nicht, ob ich das nochmal tun kann«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.

Lena drehte den Pyritring an ihrem Finger. Sie hätte Ariana gern gesagt, dass sie das auch nicht mehr müsste, aber das wäre gelogen und vielleicht müsste ihre Freundin noch viel Schlimmeres tun, als jemanden, den sie liebte, nur in ihren Gedanken zu töten.

Wenn es ihnen gelingen sollte, Pax gefangen zu nehmen, könnten sie ihn vielleicht dazu bringen, Zahras Bann zu lösen. Doch selbst dann müssten sie immer noch ihren Traum zerstören, denn Pax hinderte Ariana nur am Eindringen in Zahras Traumwelt. Die Traumwelt selbst wurde von Zahra aufrechterhalten.

Es war nicht einfach gewesen, Tavis dazu zu bewegen, von Zahras Seite zu weichen, aber die Sphäre war nun mal kein Gegenstand, den man ständig bei sich tragen konnte, zumal sie auch nicht durch jede Tür passte. Sie konnten auch niemanden abstellen, der die Sphäre permanent überwachen würde, nicht weil es nicht möglich gewesen wäre, sondern weil Tavis in Bezug auf Zahras Sicherheit so gut wie niemandem vertraute. Es gab nur eine Lösung: eine Barriere. Dazu hatten Tavis, Lena und Celine gemeinsam gearbeitet. Zwei Avindan hätten ausgereicht, drei waren nur für sehr große Barrieren nötig, wie zum Schutz einer ganzen Stadt, aber auch hier wollte Tavis kein Risiko eingehen. Bei drei Erschaffern war die Sphäre praktisch unzerstörbar, nur wenn zwei von ihnen sterben oder die Barriere freigeben würden, könnte man sie zerbrechen. Celine war nicht Tavis' erste Wahl gewesen, aber sie war sehr begabt und loyal, zumindest Lena und Zahra gegenüber. Denn, dass sie es nicht aus Gefälligkeit für Tavis gemacht hatte, hatte sie dem Legionär genau so ins Gesicht gesagt.

»Wie kommst du damit klar?«, fragte Ariana.

Lena blickte auf ihre Hände. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie immer noch die Schreie hören und die Hitze auf ihrer Haut spüren. Sie hatte heute eine Grenze überschritten, aber wenn sie wieder in dieser Situation wäre, würde sie genauso handeln. Ein Gedanke, der ihr Angst einjagte.

Wenn man oft genug Grenzen überschritt, verblassten sie immer mehr, bis sie schließlich vollkommen aufhörten zu existieren. War Tavis so zu dem Menschen geworden, der er jetzt war?

»Es war nicht real. Du müsstest das besser wissen als jeder andere«, sagte Lena und blickte ihrer Freundin in die Augen. »Außerdem war es meine Entscheidung, nicht deine.«

Ariana nickte gedankenversunken. Es war nur ein schwacher Trost.

Wieder fiel Licht in das schummrige Zimmer. Diesmal war es Celine, die die Tür geöffnet hatte. Sie setzte sich neben Ariana auf den Boden. »Was für ein Chaos«, sagte sie kopfschüttelnd.

»Wie geht es Lukas?«, fragte Lena. Sie war ihren Freunden heute den ganzen Tag aus dem Weg gegangen und hatte sich zuerst in Sirab und anschließend in diesem Zimmer regelrecht versteckt. Und ihre Freunde hatten ihr den Freiraum gelassen. Schließlich befand sich hier eine ganze Armee Jäger, die sie sofort hätten aufspüren können.

Celine funkelte sie an. »Wie soll es ihm schon gehen? Er ist im Verlies und trägt Fesseln, während Tavis, der wahre Verbrecher, im Vollbesitz seiner Kräfte ist und noch nicht einmal unter Arrest gestellt wurde.« In ihren Augen war der Legionär die Wurzel allen Übels.

»Lukas hat ihn halbtot geprügelt, da finde ich die Fesseln gar nicht mal so unangebracht«, sprang überraschenderweise Ariana ein.

»Tavis hat seine widerwärtige Tat selbst zugegeben und er konnte auch nichts zu seiner Verteidigung vorbringen«, wandte Celine ein. Ihr Mitleid für Tavis hielt sich stark in Grenzen.

»Du hast keine Ahnung davon, was er kurz vorher durchgemacht hat«, sagte Lena mit kühler Stimme. Ariana und sie hatten niemandem erzählt, was sich in Tavis' Gedanken zugetragen hatte. »Mit diesem Bann hat Tavis mir schon mehr als einmal das Leben gerettet. Das ist alles, was ihr zu seiner Verteidigung wissen müsst.«

Celine erwiderte nichts.

»Ich denke, dass deine Verbindung zu Tavis der Grund dafür ist, warum du Kosta bei einem mentalen Kampf besiegen konntest.« Ariana zeichnete eine Ellipse auf den Boden. Flammen folgten ihrem Finger. »Ich habe in Vonna mit dir trainiert und kann sagen, dass du kein Ausnahmetalent warst, was mentale Fähigkeiten anging. Aber dieser Tempel, den du erschaffen hast, ist wirklich beeindruckend.«

»Ich wollte ihn gar nicht erschaffen. Ich habe nur versucht, Tavis auszusperren.« Lena erinnerte sich noch genau an ihr erstes Gespräch mit dem Legionär und wie sie sich einen Flur und eine Tür vorgestellt hatte.

»Du hast instinktiv deine Gedanken mit diesem Gebäude geschützt.«

Bei jedem mentalen Gespräch hatte Lena an ihren Kräften gearbeitet, ohne es überhaupt als Training wahrzunehmen.

»Wo ist Tavis?«, wollte Lena wissen. Sie hatte weder in ihren Gedanken noch in der Realität mit ihm gesprochen, seit sie die Barriere errichtet hatten. Obwohl sie es sehr gern getan hätte, überließ sie es diesmal ihm, den ersten Schritt zu machen. Sie glaubte, nun zu verstehen, welchen Plan Tavis verfolgt hatte, und damit wusste sie auch, welche Rollen der Legionär für Lukas und Darian vorgesehen hatte.

Sein Tod hätte in einer Manipulation gegipfelt, die Lena erst jetzt wirklich durchschauen konnte. Er hatte gewollt, dass sie sich für Lukas entschied. Auf diese Weise würde Darian bei Zahra bleiben und sich um sie und seinen Sohn kümmern. Eine Aufgabe, die Tavis keinem anderen Menschen anvertrauen würde. Und Lukas' Hass auf Tavis sollte dafür sorgen, dass er den Legionär töten würde, sobald er von dem Bann erfahren würde. Lena wäre dann frei gewesen.

Das Schlimmste daran war, dass Tavis vermutlich glaubte, in Lenas Interesse gehandelt zu haben. Dachte er wirklich, dass sie seinen Tod begrüßen würde, nur, um von ihm wegzukommen? Hätte er nicht wissen müssen, wie falsch er damit lag? Denn die Wahrheit war, dass Lena die Verbindung zu ihm selbst dann behalten würde, wenn es nicht seinen Tod bedeuten würde.

»Fynn hat ihn, so wie die anderen Jäger und die Offiziere, im Westflügel untergebracht. Sein grimmiger Handlanger und Darian sind jetzt bei ihm.« Celine machte sich noch nicht einmal die Mühe, ihren Unmut zu verbergen. »Habt ihr schon den Typ mit der Gesichtstätowierung gesehen?«

Ariana gluckste. »Nicht, seit er damit gedroht hat, in Lenas Blut zu baden.«

Lena fing an zu lachen. »Celine, ich denke, du musst deinen Unterricht für höfliche Gepflogenheiten um einen zusätzlichen Teilnehmer erweitern.«

Celines Blick wanderte zwischen den beiden Mädchen hin und her. »Bitte sagt, dass das ein Scherz ist.«

»Das ist kein Scherz.« Ein neues Muster flammte neben Ariana auf dem Fußboden auf.

Fassungslos starrte Celine ihre beiden Freundinnen an. »Ich werde heute Nacht in einer Barriere schlafen.«

»Wir sind doch schon in einer Barriere, wozu brauchst du noch eine?« Ariana ließ kleine Flammen zu ihrer aufgebrachten Freundin wandern.

Celine erschuf einen Schutzschild um die Flammen und ließ sie darin ersticken. »Der Sinn einer Barriere ist es, die Gefährlichen und Verrückten draußen zu lassen, und nicht, ihnen auch noch Zimmer zuzuweisen, so wie wir das machen.«

Lena erhob sich und wollte schon gehen, als ihr einfiel, dass sie nicht wusste, wo sich der Eingang zum Verlies befand. »Ich möchte Lukas sehen. Bringt eine von euch mich bitte zu ihm?«

»Du solltest nichts überstürzen. Lass ihm noch etwas Zeit«, sagte Celine. Ihre Stimme hörte sich ausweichend an.

»Er hatte genug Zeit. Ich möchte ihn jetzt sehen«, erklärte Lena mit Nachdruck, aber Celine rührte sich nicht. Den mitleidigen Ausdruck in ihren Augen kannte Lena bereits.

»Er will dich nicht sehen«, gestand ihre Freundin schweren Herzens. »Lena, es ist nicht so einfach für ihn …«, Celine brach den Satz ab.

»Ich verstehe«, antwortete Lena mit matter Stimme und ging hinaus, obwohl es nicht stimmte – sie verstand überhaupt nichts.

Als Lena den Hof überquerte, sah sie eine dunkle Gestalt auf einer umgefallenen Säule sitzen. »Ich dachte, du bist bei Tavis?«, fragte sie und nahm neben dem Krieger Platz.

»Darian und Tavis haben noch einiges zu bereden.« In seiner linken Hand hielt Ivo einen Ast und schnitze mit seinem Manganmesser hauchdünne Streifen von der Rinde. »Wenn ich heute Abend noch einmal die Namen Zahra oder Lena höre, werde ich mich auf Ronens Seite schlagen und euch alle vernichten.« Seine Stimme hörte sich düster an. Wenn Celine hier gewesen wäre, hätte sie schon Alarm geschlagen, aber Lena musste lächeln.

»Warum hast du Tavis nicht geholfen?«, fragte sie wieder mit ernster Miene.

»Ich habe ihm geholfen, falls es dir nicht aufgefallen ist.« Ivo drehte den Ast in seiner Hand, während die Messerspitze durch die Rinde schnitt und damit ein gewundenes Muster hinterließ. »Natürlich hätte ich für ihn lügen und für ihn kämpfen können, aber was dann? Bei diesem Kampf hätte es mit Sicherheit Tote gegeben. Wir hätten unsere einzigen Verbündeten verloren und Tavis womöglich einen weiteren Bruder.« Erneut fuhr das Messer über das weiche Holz. »Tavis musste gestehen, was er getan hat. Die ganze hässliche Wahrheit aussprechen. Und er musste echte Reue zeigen. Hätte er sich gewehrt oder sich in Ausflüchten verloren, wäre es sein Ende gewesen. Nur die Wahrheit konnte ihn befreien. Und du. Du warst die Einzige, die über ihn richten konnte. Letztendlich mussten deine Freunde deine Entscheidung akzeptieren. Aber glaub ja nicht, dass ich einfach dabei zugesehen hätte, wie er getötet wird.«

»Das hört sich so berechnend an. Wahrheit und Reue als Taktik? Hat Tavis sich das ausgedacht?«

»Nein, Tavis war nicht in der Lage, sich überhaupt irgendwas auszudenken. Er war zur Abwechslung einfach nur ehrlich und völlig am Boden zerstört. Ich weiß nicht, was ihr Mädchen in seinen Gedanken gemacht habt, aber so habe ich ihn noch nie erlebt.«

»Und das mit Lukas, hast du das auch geplant oder einfach nur in Kauf genommen?«

Endlich blickte Ivo von seiner Schnitzerei auf. »Lukas kämpft gegen seine eigenen Dämonen. Tavis war für ihn nur ein Ventil. Aber wenn Lukas nicht bald bekommt, was er schon so lange sucht, dann wird ihn das von innen zerstören.«

»Rache an der Legion?«

Ivo schüttelte den Kopf. »Nein. Vergebung.«

»Ich habe ihm vergeben.«

Ein tiefes Lachen drang aus seiner Kehle, so dass sein ganzer Brustkorb vibrierte. »Es ist nicht deine Vergebung, die er sucht.«

 

***

 

Lena lag in ihrem Bett und konzentrierte sich auf ihre Atmung in der Hoffnung, ihren Kopf frei zu bekommen, aber selbst nach Stunden war an Schlaf nicht zu denken. Tavis hatte recht gehabt, meditieren war nichts für sie.

Je länger sie über Lukas' Entscheidung nachdachte, desto wütender wurde sie. Wer gab ihm das Recht zu bestimmten, ob sie ihn sehen durfte oder nicht? Dass er sie nicht sehen wollte, hieß nämlich noch lange nicht, dass sie ihn nicht sehen konnte. Schließlich zog sie sich wieder an und huschte in den dunklen Korridor. Das Verlies würde sie auch ohne Hilfe finden. So schwer wird das schon nicht sein, sagte sie sich und bog in der großen Halle nach links ab.

»Falsche Richtung«, ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit.

Lena zog mit einer fließenden Bewegung ihr Schwert, während sie sich herumdrehte.

Darian trat aus dem Schatten in den bläulichen Schein ihrer Wasserklinge. »Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Und ich muss zugeben, das hätte mich doch sehr enttäuscht.«

Lena ließ ihre Waffe verschwinden. Sie brauchte Darian nicht zu fragen, woher er gewusst hatte, was sie vorhatte. Dafür kannte er sie zu gut.

Ganz selbstverständlich nahm er ihre Hand in seine. Während sie durch die dunklen Gänge liefen, musste Lena daran denken, wie vertraut sich das sanfte Kribbeln auf ihrer Haut anfühlte, und wie sehr sie sich danach sehnte. Nur konnte sie nicht sagen, ob das ihre eigenen Gefühle waren oder lediglich die Erinnerung an ein vergangenes Leben.

Darian führte sie eine versteckte Treppe hinunter und blieb vor einer großen Tür stehen, ihre Hand hielt er immer noch fest. »Willst du, dass ich mit reinkomme?«

»Nein«, flüsterte Lena.

»Damit hatte ich auch nicht gerechnet.« Darian versuchte, sich verständnisvoll zu geben, stattdessen sah er gekränkt aus und das hinterließ einen bitteren Geschmack in Lenas Mund. Er war nicht verletzt, weil sie ihn nicht dabeihaben wollte, sondern weil sie Lukas überhaupt sehen wollte. Und trotzdem hatte er sie hierher begleitet.

Er ließ ihre Hand los und zeigte ihr, wie sie das Glas von Lukas' Zelle dazu bringen konnte, Bilder und Geräusche durchzulassen. Eine Handbewegung ließ er aus, und zwar den Befehl, der die Scheibe dazu bringen würde, nach oben zu fahren. Aber Lena kannte die Handbewegung ohnehin, schließlich hatte der Legionär, der in Isaton in ihre Zelle hatte eindringen wollen, sie oft genug wiederholt.

Dieses Verlies machte einen deutlich besseren Eindruck als das, in dem Emrick Selveryn gefangen gehalten hatte. Ein dunkles Gewölbe mit mehr als einem Dutzend Zellen, von denen nur eine belegt war. Lukas lag auf einer Pritsche, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Augen auf die Decke gerichtet.

Nur ein Blick genügte, um zu erkennen, dass Lukas vorher bereits eine längere Zeit in dieser Zelle verbracht haben musste, denn die Ausstattung erinnerte eher an ein spärlich eingerichtetes Zimmer als an eine Zelle, so wie Lena sie aus Isaton kannte. Lukas hatte eine Decke, ein Kissen, einen Stuhl und einen kleinen Studiertisch, auf dem einige Bücher lagen. Wenn es nicht so tragisch gewesen wäre, hätte Lena gelacht, denn Lukas war nie ein großer Freund des geschriebenen Wortes gewesen, aber sie konnte nur zu gut nachvollziehen, warum er angefangen hatte zu lesen. Sie hatte damals auch händeringend nach einer Beschäftigung gesucht, um vor Langeweile den Verstand nicht zu verlieren.

Lena legte ihre Hand auf die Glasscheibe. Es gab tausend Dinge, über die sie mit Lukas sprechen wollte. Aber wie sollte das gehen, wenn er sie immer ausschloss?

Er hob plötzlich den Kopf, als hätte er etwas gehört, dabei hatte Darian Lena versichert, dass Lukas sie weder sehen noch hören könnte. Dennoch stand Lukas auf und blickte in ihre Richtung. Langsam trat er an die Scheibe und legte seine Hand auf das Glas, direkt an der Stelle, an der sich Lenas Hand befand. Er konnte ihre Energiesignatur fühlen.

»Bitte sag etwas!«, flehte er mit brüchiger Stimme.

Lena zog ihre Hand fort und trat einen Schritt zurück. Die Sekunden verstrichen, während sie schweigend dastanden.

»Lena, ich weiß, dass du da bist.« Er legte sich eine Hand auf sein Herz, um sie an die Ignis zu erinnern. »Außerdem tust du immer das Gegenteil von dem, was man dir sagt.«

Lena ließ das Glas durchsichtig werden. »Hast du deswegen gesagt, dass du mich nicht sehen willst? Damit ich herkomme?«

»Nein. Ich habe gehofft, du würdest wenigstens einmal auf mich hören.«

»Warum?«

»Weil es nicht nur Tavis ist, der etwas Unverzeihliches getan hat.« Lena wollte widersprechen, aber Lukas ließ sie nicht zu Wort kommen. »Und weil Darian recht hat. Ich bin gefährlich. Ich verliere die Kontrolle über meine Kräfte. Du bist die letzte Person, von der ich möchte, dass sie neben mir steht, wenn es wieder passiert.«

Lena kam einen Schritt näher. »Ich fürchte mich nicht vor dir.« Sie vollführte die Handbewegung, die die Scheibe hochfahren ließ.

Lukas wich zurück. »Tu das nicht.«

»Ich kann meine Kräfte benutzen, du nicht. Wenn jemand Angst haben sollte, dann du.« Langsam betrat Lena die Zelle.

Lukas lehnte mit der Hüfte am Schreibtisch, das war der größtmögliche Abstand, den die Zelle zuließ. Er wirkte angespannt, trotzdem brach ein Lächeln durch. »Besuchst du oft Häftlinge?«

»Nur die von Block C.« Lena lächelte zurück.

»Da hab ich Glück, dass ich nicht in einem anderen Abschnitt gelandet bin. Block C scheint, was Besucher angeht, in der Tat sehr frequentiert zu sein.«

Lena sah ihn interessiert an.

»Tavis war hier.«

»Was wollte er?«, fragte Lena.

Lukas' Lächeln verblasste. Ein kühler Ausdruck trat in seine Augen. »Vielleicht erzählt er es dir bei euren nächtlichen Gesprächen. Ihr steht euch doch so nah.«

Lena entgegnete nichts. Was sollte sie darauf auch erwidern? Lukas hatte sie in Isaton belauscht. Er wusste, dass sie nachts mit jemandem gesprochen hatte, und nun wusste er auch, mit wem.

Lukas verschränkte die Arme vor der Brust. »Kann er uns jetzt hören? Oder sehen? Ist er in deinem Kopf?«

»Tavis kann uns weder sehen noch hören. Ich kann mit ihm reden, wenn ich es möchte, aber er kann nicht in meinen Geist.«

»Er ist doch schon in deinem Geist.« Lukas' Lippen zogen sich zu einer schmalen Linie zusammen. »Er hat dir Najatogift verabreicht und sich dann in deinen Geist gezwängt und du behauptest immer noch, er ist dein Freund?«

»So ist das nicht gewesen«, erwiderte Lena.

»Also hat er dir kein Najatogift verabreicht?«

»Doch, schon«, gab sie zu.

»Dann hat er keinen Seelenbann gesprochen?«, fragte Lukas mit kalter Stimme.

Lena blickte ihn schweigend an.

»Er hat dich mit einem Gift, an dem du hättest sterben können, gefügig gemacht und hat sich dann gewaltsam in deinen Geist gedrängt. Je länger ich darüber nachdenke, desto abstoßender finde ich das.« Lukas ballte die Hände zu Fäusten. Es war gut, dass er Fesseln trug, denn das war vermutlich das Einzige, das ihn daran hinderte, sich aus dieser Zelle zu befreien und sich wieder auf den Legionär zu stürzen. Lena vermutete, dass Tavis seinen Besuch hier bei geschlossener Glasscheibe absolviert hatte.

»Tavis hatte den Seelenbann lange vor dem Najatogift gesprochen.«

»Inwiefern macht es das besser?«

»Der Seelenbann ist eine Verbindung zu Tavis. Es stimmt, er wollte sie am Anfang nicht unbedingt zu meinem Wohl einsetzen, aber das hat sich geändert. Außerdem hat Tavis lernen müssen, dass ich diese Verbindung genauso kontrollieren kann wie er. Es funktioniert immer nur in beide Richtungen.«

»Das macht es nicht besser.«

»Doch, Lukas. Es ist wie das Gespräch, das wir gerade führen. Wir haben uns beide dazu entschieden, miteinander zu sprechen. Genauso ist die Verbindung, die ich mit Tavis habe. Jedes einzelne Mal treffe ich die Entscheidung, ob ich mit ihm reden möchte oder nicht.« Die Verbindung zu Ronen sah dagegen ganz anders aus. Hier hatte Lena keine Möglichkeit, etwas zu entscheiden, aber das war nichts, das sie jetzt weiter ausführen wollte. »Das Najatogift hat Tavis dazu benutzt, um sich meine Erinnerungen über dich anzusehen.«

»Über mich?« Lukas blickte sie ungläubig an.

»Ja, er dachte, er könnte auf diese Weise etwas finden, das ihm dabei hilft, deine Erinnerungen zurückzuholen. Sein Vorgehen war vielleicht falsch, aber er wollte damit das Richtige tun.«

»Nein, Tavis wollte damit das tun, was er für richtig hält. Da gibt es einen Unterschied.« In seiner Stimme war deutlich die Bitterkeit herauszuhören. »Wie konntest du dich mit dem Mann anfreunden, der dich gequält und gefangen genommen hat?«

»Ich habe es damals nicht gewusst, dass es Tavis war, mit dem ich gesprochen habe. Ich war allein und habe einen Freund gebraucht.«

»Ich war dein Freund.«

»Ach, ja?!«, fauchte Lena ihn an. »Wenn du dich in Isaton dazu herabgelassen hast, mich nicht zu ignorieren, dann hattest du nur miese Ratschläge für mich übrig, wie den, dass ich mich mit meinem Schicksal abfinden sollte.«

»Das war der beste Ratschlag, den dir jemand in dieser Zeit geben konnte. Du wolltest frei sein. Dieser Wunsch brannte in deinen Augen. Er umgab dich wie ein Kraftfeld. Glaubst du, ich war der Einzige, der das sehen konnte?« Lukas stieß sich vom Tisch ab und kam einen Schritt näher. »Ich wollte verhindern, dass du noch mehr verletzt wirst. Du warst in Isaton nie Zeugin einer Bestrafung, dafür haben Tavis und Ronen gesorgt, um dir heile Welt vorzuspielen. Weißt du, welche Wunde nur ein einzelner Peitschenhieb hinterlässt?«

Lena wandte den Blick ab. Die Peitschenhiebe, die ihr Lukas in Ronens Thronsaal zugefügt hatte, waren nur oberflächlich gewesen, kein Vergleich zu dem Hieb, den er Gabriel beim Trainingskampf verpasst hatte. Wenn Lena die Augen schloss, konnte sie immer noch sehen, wie sich das Blut auf Gabriels Rücken ausgebreitet und den Stoff seines Hemdes rot gefärbt hatte.

»Als deine Lüge über Darian aufgeflogen ist, hat Tavis deine Bestrafung in die eigene Hand genommen und somit verhindert, dass der Innere Kreis intervenieren konnte. Für einen Fluchtversuch hätten Gabriel und du mindestens zehn Peitschenhiebe bekommen. Davor hätte dich niemand bewahren können, auch Tavis nicht. Du weißt nicht, wie sich das anfühlt.« Lukas atmete schwer. »Das hätte dich gebrochen«, setzte er leise hinzu.

Es war ein dunkles, kaltes Gefühl, das von Lena Besitz ergriff. »Weißt du, wie sich zehn Peitschenhiebe anfühlen?«

»Ja«, antwortete er beinahe lautlos. »Und dann nochmal zehn. Und noch ein weiteres Mal.« Lukas verstummte.

Lena ließ ihn schweigen. Es war seine Entscheidung, ob er darüber sprechen wollte oder nicht.

»Der körperliche Schmerz sollte meine innere Barriere brechen, damit Kosta in meinen Geist eindringen konnte«, fuhr Lukas nach einer Weile fort. »Bei den meisten Gefangenen reichen weniger Schläge aus, aber ich habe einfach nicht aufgehört, gegen ihn zu kämpfen. Ich konnte nicht zerbrechen, nicht solange ich deine Stimme gehört habe. Du hast meinen Namen gerufen und Ronen angefleht, er sollte aufhören. Ich wollte für dich stark sein.«

Die Erinnerungen an diesen Tag schwappten wie eine gewaltige Welle über Lenas Geist. Lukas' Worte waren wie ein Sog, der sie zurück in das Verlies von Isaton brachte. Ihre Handflächen pochten, weil sie ununterbrochen gegen die Glasscheibe gehämmert hatte. Lukas' Schreie erfüllten die Luft. Tränen stiegen Lena in die Augen.

»Aber dann brach deine Stimme plötzlich ab und ich hatte nichts mehr, an das ich mich klammern konnte. Es gab nur noch den Schmerz. Ronen trat neben mich und sagte, ich würde dich nie wiedersehen, nie wieder deine Stimme hören. Er hat gelacht und mir ins Ohr geflüstert, was er dir antun würde. Tavis hat einfach nur danebengestanden. Seinen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen: kalt und gleichgültig. Ich konnte dich nicht vor ihnen beschützen. Ich war in meiner persönlichen Hölle gefangen. Beim nächsten Hieb zerbrach meine Barriere. Ohne dich hatte ich keine Kraft mehr, weiter gegen Kosta anzukämpfen.«

Lena schloss die Augen und ließ die Tränen ihre Wangen hinunterlaufen. Sie hatte Ronens Bösartigkeit unterschätzt. Sie hatte damals angenommen, dass er die Glasscheibe ihrer Zelle hatte opak werden lassen, weil er sie in seinen Augen genug gequält hatte, aber der wahre Grund war ein anderer gewesen, und zwar, um Lukas zu brechen.

Lena hätte gern die Distanz zwischen ihnen überwunden und ihre Arme um Lukas gelegt, aber es ging nicht. Da war etwas, das er ihr verschwieg. Es trennte sie voneinander wie eine Barriere, nur konnte Lena nicht benennen, was es war.

Lukas lehnte sich wieder an den Schreibtisch. Er wollte nicht mehr über das Geschehene reden und es sah auch nicht so aus, als hätte er jetzt gern Gesellschaft.

Lena ging hinaus und ließ die Glasscheibe wieder herunter. Dabei hatte sie das Gefühl, dass es nicht das Verlies war, das ihn gefangen hielt. Er war es selbst.

Sie wollte sich schon abwenden, als er an die Scheibe trat. »Den Jungen, der dir im Park ein Armband geschenkt hat, gibt es schon lange nicht mehr.«

Lena blickte in seine grünen Augen. Ein dunkelbrauner Kranz lag um die Pupillen. »Gut, denn dieses Mädchen gibt es auch nicht mehr.«

Als Lena durch den Tempel lief, konnte sie zwar keinen einzigen Jäger entdecken, dennoch spürte sie ihre Anwesenheit. Lautlos und unsichtbar bewachten sie die Anlage. War es Tavis gewesen, der die Wachen aufgestellt hatte, oder einer seiner Offiziere?

Darian hatte im Verlies nicht auf sie gewartet und Lena rechnete es ihm hoch an, dass er ihr den Freiraum gab, den sie brauchte.

Noch bevor sie ihr Zimmer erreicht hatte, vernahm sie das mentale Klopfen, ließ sich aber damit Zeit, dem Legionär die Tür zu öffnen.

Tavis sah genauso zerschlagen aus, wie Lena sich fühlte. In gewohnter Manier ließ er sich in die Polster der Couch fallen und wartete darauf, dass Lena das Wort ergreifen würde, doch sie blieb stumm. Aus Erfahrung wusste sie, dass in solchen Fällen unheilvolles Schweigen eine viel bessere Wirkung erzielte als wütendes Anschreien. Außerdem fehlte ihr für Letzteres schlichtweg die Energie.

»Es tut mir leid«, sagte der Legionär schließlich. »Ich dachte, ich würde Zahra damit retten.«

»Ich bin nicht wütend darüber, dass du versucht hast, sie zu retten, sondern weil du denkst, du würdest mir mit deinem Tod einen Gefallen tun.« Lena hielt inne, weil sie nicht so recht wusste, was sie sagen sollte. »Stell dir vor, unsere Verbindung wäre mit meinem Tod gebrochen, würdest du wollen, dass ich sterbe?«

Tavis starrte sie aus großen Augen an. »Natürlich nicht!«

»Und wieso denkst du dann, dass es für mich anders wäre?« Lena strich über den Stoff ihres Kleides und sammelte Mut für die nächste Frage, die sie Tavis stellen wollte. »Wenn es eine Möglichkeit geben würde, unsere Verbindung zu beenden, ohne dass du dabei sterben müsstest, würdest du es wollen?«

Wie so oft verriet sein Gesichtsausdruck nicht, was er dachte. Als er den Blick zu Boden senkte, musste Lena schlucken. Dass sie die Verbindung zu Tavis nicht beenden würde, bedeutete noch lange nicht, dass es ihm genauso ging.

»Nein«, gestand er, vermied es aber immer noch, sie anzusehen.

»Du hast mir versprochen, dass sich zwischen uns niemals etwas ändern wird.«

Tavis hob endlich den Blick, weil er den Vorwurf in ihrer Stimme herausgehört hatte. »Das wird es auch nicht«, versicherte er mit Nachdruck.

»Das setzt aber voraus, dass du am Leben bist.« Tränen stiegen Lena in die Augen, aber nur in der Realität. Ihre Gedanken hatte sie unter Kontrolle. »Du wärst fast gestorben in diesem Traum.«

Tavis blickte auf die Feueracht an seinem Pyritring – es lag unfassbarer Schmerz in seinen hellbraunen Augen. »Ich wollte es so sehr.«

»Ich weiß.« Lenas Traum hatte sich damals auch täuschend echt angefühlt. Selbst nachdem sie gemerkt hatte, dass es nicht real gewesen war, hatte sie viel Kraft aufbringen müssen, um Lukas die Worte zu sagen, die die Illusion zerschmettert hatten.

»Diesen Traum kannst du immer noch leben, denn die Zukunft ist nicht entschieden.«

Tavis rang sich ein schwaches Nicken ab – er glaubte nicht daran.

»Wie lange soll Lukas im Verlies bleiben?«, wechselte Lena das Thema. Welche Strafe war angemessen für einen vom Opfer selbst geplanten und provozierten Tötungsversuch?

»Solange er möchte«, sagte Tavis.

»Was?« Sie glaubte, sie hätte sich verhört.

»Ich war schon bei ihm, aber er wollte seine Zelle nicht verlassen. Auch die Pyritfesseln hat er sich nicht abnehmen lassen.«

»Er denkt, er wäre eine Gefahr für mich.« Und mit Sicherheit war er eine Gefahr für Tavis, was für Lukas' Entscheidung, im Verlies zu bleiben, aber bestimmt keine Rolle gespielt hatte.

Tavis musterte sie mit einem durchdringenden Blick. Ob er tatsächlich glaubte, dass es so wäre, war unmöglich herauszulesen.

Lena dachte daran, was sie Lukas über den Seelenbann erzählt hatte. Warum war es so einfach, den Bann zwischen Tavis und ihr zu kontrollieren, während ihr Ronens Bann die Luft zum Atmen raubte?

»Kelev hat mir von deiner Begegnung mit Ronen erzählt.«

Lena blickte Tavis überrascht an. Der Ausdruck in seinen Augen war genauso kalt wie seine Stimme.

Warum sprach er genau jetzt dieses Thema an? Dass Lena in diesem Moment auch über Ronen nachdachte, konnte er nicht wissen. Statt etwas zu sagen, sah sie den Legionär mit ausdrucksloser Miene an.

»Was ist passiert?« Tavis wollte das Thema offenbar nicht ruhen lassen.

»Kelev hat dir doch bestimmt alles erzählt.«

»Ich will wissen, was zwischen Ronen und dir wirklich passiert ist, und nicht das, was Kelev gesehen hat.«

Diesmal war es Lena, die den Blick senkte.

»Eure Verbindung ist stärker geworden. Sein Einfluss auf dich wächst«, behauptete Tavis mit Mitleid in der Stimme.

»Das stimmt nicht«, setzte Lena zur Lüge an, sie wollte sein Mitleid nicht. »Es geht mir gut.«

»Ach, ja?!«, schnaubte Tavis und deutete auf ihr Kleid. »Dann sieh dich doch nur mal an!«

Lena blickte an sich herunter. Ihr Kleid hatte sich verändert. Die schwarze Spitze reichte ihr nun bis zum Saum, der weiße Stoff schimmerte lediglich nur noch unter dem schwarzen Muster hindurch. Lenas Finger tasteten nach dem dunklen Gewebe. Das Kleid wurde von ihren Gedanken geformt und es hatte sich ohne ihr Wissen transformiert. Es hatte nicht mehr viel mit dem Kleid vom Herbstalbedo gemein.

»Gedanken und Gefühle sind eng miteinander verbunden. Deine Gefühle spiegeln sich unweigerlich in deinen Gedanken wider.« Tavis blickte sie wissend an. »Hat sich Ronen in deinen Gefühlen manifestiert?«

»Ja.« Es weiter abzustreiten hatte keinen Sinn.

»Lena, das hättest du mir sagen müssen.«

»Und was hätte das geändert? Du kannst mir nicht helfen und du kannst mich auch nicht vor Ronen beschützen. Niemand kann das.« Sie versuchte, ihre Stimme kontrolliert klingen zu lassen, aber es gelang ihr nicht, die Angst darin zu verbergen.

»Sag mir, was passiert ist«, forderte Tavis mit eindringlicher Stimme.

»Es war meine eigene Schuld. Ich habe die Kontrolle über meine Gefühle verloren. Die Angst hielt mich gefangen, das hat es Ronen leicht gemacht ...« Lena stockte. Sie spürte immer noch seine Finger an ihrer Wange und die Ketten um ihre Handgelenke. Ronen hatte nur Sekunden gebraucht, um Angst, Wut und das Gefühl von Hilflosigkeit in Lenas Herz zu schüren.

Goldenes Licht flackerte in Tavis' Augen. Noch nie hatte er furchteinflößender ausgesehen als in diesem Moment. »Hat er dich verletzt?«

Lenas Finger krallten sich in den Stoff ihres Kleides. »Noch nicht.«